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Von der Authentizität virtueller Wirklichkeiten
Atmosphärisches Vergangenheitserleben in Digitalen Spielen
Von: Sabine Fauland (Museumsbund Österreich), Graz

Zusammenfassungen der Keynote von Felix Zimmermann, Referent für Games-Kultur, politische Bildung und Extremismus, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn, am #digiRoundtable IV, 7. Juli 20223, Graz.


Geschichtswissenschaftliche Game Studies sind ein eigenes Forschungsfeld. Die immer besser erforschten historisierenden digitalen Spiele prägen den Konsummarkt erheblich, insbesondere Triple-A-Spiele wie Assassin’s Creed, Battlefield oder Call of Duty
Aus der wirtschaftlichen Relevanz ergibt sich nicht automatisch eine kulturelle Relevanz, die kulturelle Relevanz entsteht oft unabhängig von Blockbuster-Spielen. 
 
Für Historiker:innen sind solche Spiele aus zweierlei Gründen eine lohnenden Quelle: Einmal sind sie eine Quelle, um Aussagen über Entstehungszeit und -kontexte zu treffen, d. h. die Spiele legen bis zu einem gewissen Grad Zeugenschaft ab, wie die Gesellschaft beschaffen war, für die und aus der heraus diese Spiele geschaffen wurden. Zweitens sind digitale Spiele auch eine eigene historische Form mit spezifischer Medialität. Es ist interessant, auf welche Weise mit welchen spezifischen Inszenierungstechniken diese Spiele Geschichte erzählen, die sich auch qualitativ von anderen geschichtskulturellen Produkten unterscheidet, bspw. Dokudramen oder Historienromane.

Über die Authentizität von digitalen historisierenden Spielen gibt es zahlreiche Arbeiten und Artikel. Authentizität, Akkuratesse, Realismus sind begrifflich dabei keinenfalls deckungsgleich. Die begriffliche Unschärfe wirkt besonders schwer, weil Spieler:innen, Entwickler:innen, Journalist:innen etc. diesen Begriff sehr inflationär verwenden. Über digitale Spiele wird meist gesprochen, als wären sie tatsächliche historische Quellen, als könnten sie mit den gezeigten Ereignissen fundierte Aussagen über die Vergangenheit treffen. Eigentlich sind digitale Spiele Quellen für ihre eigene Entstehungszeit und können Aussagen über die Gesellschaft treffen, in der sie entstanden sind. 
Diskussionen über Authentizität können fehlleiten, weil sie die Vorstellung produzieren, dass diese Spiele uns Zugang zur Vergangenheit eröffnen können.

Das grundlegende Missverständnis liegt eben darin, dass diese Spiele zu oft über ihre vermeintliche Aussagekraft über die Vergangenheit verhandelt werden, obwohl es vor allem um den Eindruck von Authentizität geht, vor allem bei den Blockbuster-Spielen, bei denen es eigentlich nur darum geht, Gefühle bei den Spieler:innen hervorzurufen. Es geht nicht darum, den geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand aufzuarbeiten, es geht um eine Ästhetisierung von Vergangenheit, darum Erlebnisse zu produzieren. Diese Spiele sind Teile einer Experience Economy, den Joseph Pine und James H. Gilmore schon 1998 geprägt haben (Welcome to the Experience Economy, 1998). Susanne Knaller und Harro Müller nannten es 2006 global betriebene Authentizitätsindustrie. Dort sind diese Spiele einzuordnen.
Das Ziel der meisten dieser Spiele ist es also, einen vermeintlich unmittelbaren, erlebnisorientierten Zugang zur Vergangenheit anzubieten. 
 
Bei Assassin’s Creed. Syndicate schlüpfen die Spieler:innen in die Rolle von den Zwillingsassassinen Jacob und Evie Frye im London 1886, um die Herrschaft des Templers Crawford Starrick zu verhindern. Im Spiel geht es auch um alle möglichen Themen, die auch im Viktorianischen London eine Rolle spielten: Klassenkampf, Arbeiter:innenschaft, Kinderarbeit, technologischer Fortschritt, Imperialismus uvm. Diese Themen werden angedeutet und mehr oder weniger vertieft. Man trifft in diesem Spiel auch historische Persönlichkeiten, Karl Marx oder Alexander Graham Bell bspw. Es ist sehr stark an populäre Vorstellungen vom London um 1900 angelehnt. 
Der Rechercheprozess ist bei der Spiele-Entwicklung interessant; es ist eine Art Hands-on-Zugang, wie das Zitat von Jean-Vincent Roy, Resident Historian, AC Syndicate, unterstreicht: „We wanted to get a feel for the city. [...] How streets roll and unwind, how natural light affects ambience through the day, how the River Thames acts as an artery, pulsing through the city, and how it feels to walk the streets, only to find yourself unknowingly face to face with such famous landmarks.” 
 
Die Involvierung von Historiker:innen hat natürlich auch einen Marketing-Effekt, die umfangreichen Recherchen werden nicht immer zur Gänze wahrgenommen und umgesetzt. Ein Realitätscheck seitens der Spiele-Entwickler:innen ist sinnvoll, aber die Zielsetzung der Arbeit ist eine andere: Eine Atmosphäre soll geschaffen werden – mithilfe von bekannten Sehenswürdigkeiten und Blicken! Crowdlife-Elemente unterstreichen die gewünschte Atmosphäre, Interaktion findet nicht statt: „Crowd life is an extremely important ambience feature which gives life to the setting. Shipyards, marketplaces, palace balls, are all carefully decorated with people doing and saying things representative of life in Victorian London”, 
Lydia Andrew, Audio Director AC Syndicate, im Gespräch mit The Sound Architect.

Architektur ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Was kann digitalisiert werden und sinnvoll eingebaut werden. Es handelt sich um eine modulare Bauweise, architektonische Stile werden festgelegt, dann werden diese Gebäude in die Stadt eingebaut, aber es ging nicht darum, einen authentischen Stadtplan wiederzugeben und den historischen Kontext aufzuarbeiten oder Vermittlungsarbeit zu leisten. Das gesamte London ist zusätzlich auch komprimiert. Wichtige Wahrzeichen wurden platziert, die Räume zwischen den Wahrzeichen wurden dann mit atmosphärisch passender Architektur aufgefüllt, die mit der Spielfigur gut erklettert werden können. Es geht um einen stimmigen Gesamteindruck, der auch vom Forschungsstand entfernt sein kann: „Similarly, the street layouts can have remarkable grounding in the actual layout of cities – heading north-east from Buckingham Palace to reach Trafalgar Square, for example. Again, however, these have been altered to improve gameplay, primarily by shortening distances and inserting generic, repeating elements to fill in the streetscape between the famous buildings" (Phil Ian Jones/Tess Osborne, Analysing virtual landscapes using postmemory, Social & Cultural Geography 21/2 (2018), S. 191).
 
Die Spieler:innen begeben sich mit ihrem Avatar in einem Raum, begeben sich in andere Klangwelten, verfolgen andere Wahrnehmungseindrücke. Es geht bei diesen Spielen nicht so sehr um die Handlung, das Treffen historischer Persönlichkeiten, sondern es geht um die Atmosphäre – es geht um Authentizität auf einer Gefühlsebene, Affekte, Emotionen, Gefühle werden durch den Raum erzeugt.
 
Vergangenheit bedeutet nicht Geschichte, Vergangenheitsatmosphäre nicht historische Atmosphäre. Für Geschichte ist der vermittelnde Charakter entscheidend, Dekonstruktionswerkzeuge sind ein entscheidender Teil des historischen Denkens, damit das standortgebundene Element entlarven kann.
Historisierende digitale Spiele sind präsentistisch, unmittelbar und auf das Erlebnis ausgerichtet. Sie verschleiern eigentlich das Vermittlungselement von Geschichtsschreibung, weil die Spiele nur dann gut funktionieren, wenn die Spieler:innen sich keine Gedanken über Geschichte machen und es als Vergangenheit angenommen wird: „Die visuellen Erfahrungswelten der Spiele sind einer der wirkmächtigsten Orte, an denen der Text, die Gemachtheit und die Arbitrarität aus den Rechnern ‚ausgetrieben‘ wird.“ (Rolf Nohr, Raumfetischismus. Topografien des Spiels (PDF), 2013) 
 
Spannend ist, wie sich das Bedürfnis nach einem unmittelbaren Vergangenheitskontakt auf den digitalen Weltenbau trifft, der den Entwickler:innen eine große Freiheit bietet. Dementsprechend sind digitale Spiele eine Ausprägung von Wirklichkeitsdesign. Digitale Spiele ermöglichen mehr Einflussnahme auf die Umwelten als es in der Realwelt jemals der Fall sein könnte. 
 
In den Diskursen um diese Spiele wird davon gesprochen, dass Spieler:innen in eine andere Zeit versetzt werden, der Begriff der Zeitreise fällt tatsächlich: „The core of the franchise has always been the fantasy of the historical time machine. Even though it’s not technically a time machine, because it doesn't transport you to another era, it still allows our fans to experience different periods of time. That’s the essence of Assassin’s Creed. As long as we fulfil that, it’s an Assassin’s Creed game. It's about giving the player the chance to visit another time and place“, sagt Marc-Alexis Côté, Creative Director Assassin’s Creed Syndicate, in einem Interview mit GameSpot, 2015. Es ist ihre Mission, ein Zeitreisegefühl herzustellen, einen direkten Zugang zur Vergangenheit!
 
Ist die Zusammenarbeit mit Game-Studios für Kulturerbeinstitutionen sinnvoll? Das ist vom Ziel abhängig. Es kann sein, dass Kulturerbedaten an große Studies verkaufen kann, das erleichtert potenziell deren Arbeit, aber es ist problematisch, wenn damit ein gewisser Vermittlungsanspruch verfolgt wird, denn den großen Studios geht es nicht um Geschichtsvermittlung. Hier entsteht ein Zielkonflikt. 
Andererseits leben diese Spiele vor, was sich auch Kulturerbeinstitutionen wünschen, immersive Erlebnisse zu schaffen, die Menschen anziehen und binden. Game Studios können hier eine Vorreiterrolle einnehmen. 

Aufwendige Spiele können von Kulturerbeinstitutionen sicher nicht produziert werden, aber eine Zusammenarbeit mit kleineren Studios, die Interesse an Vermittlung haben, ist sinnvoll. Jedoch gibt es hier kein Geld zu holen – im Gegenteil.


Felix Zimmermann ist Referent für Games-Kultur, politische Bildung und Extremismus bei der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, Bonn. Er studierte Kommunikationswissenschaft, Geschichtswissenschaft und Public History in Münster und Köln. Von 2018 bis 2022 war er Promotionsstipendiat der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne und arbeitete an seiner Dissertation zum atmosphärischen Vergangenheitserleben in Digitalen Spielen. Die Arbeit erschien Anfang 2023 unter dem Titel Virtuelle Wirklichkeiten. Atmosphärisches Vergangenheitserleben im Digitalen Spiel im Büchner-Verlag. Mit den Vergangenheitsatmosphären bietet Felix Zimmermann erstmals einen Begriff an, um dieses Streben nach Unmittelbarkeit adäquat beschreiben zu können. Anhand tiefgehender Analysen der Digitalen Spiele Anno 1800 (2019), Assassin’s Creed Syndicate (2015) und Dishonored: Die Maske des Zorns (2012) wird der Begriff konturiert und die Produktivität einer an Theorien und Methoden der Public History, Game Studies und Phäno-menologie geschulten Atmosphärenforschung unter Beweis gestellt. Neben seiner hauptberuflichen Beschäftigung mit Digitalen Spielen bei der bpb forscht er besonders zu Games als Teil erlebnisorientierter Geschichtskulturen sowie zum atmosphärischen und erinnerungskulturellen Potenzial des Mediums. Außerdem tritt er als Beobachter und Kommentator der Gamesbranche auf und veröffentlicht seit 2012 Beiträge zu Themen der Games-Kultur.

Eine Veranstaltung des #digiRoundtables, eine Initiative von Thomas Aigner, (Time Machine Organisation), Sabine Fauland (Museumsbund Österreich),  Manfred Gruber (Bundeskanzleramt, Smart Data & Softwareservices), Karlheinz Mörth (Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (ACDH-CH) / CLARIAH-AT), Robert Sablatnig (TU Wien: Institute of Visual Computing & Human-Centered Technology) & Walter Scholger (Universität Graz: Institut Zentrum für Informationsmodellierung – Austrian

#digiRoundtable is powered by Bundesministeriums für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport.

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