Ausstellungsansicht „Òwú. Fil. Faden. Thread. Die verflochtene Geschichte von Textilien, Handel und kolonialen Erbschaften“, 26. April bis 29. Juni 2025, Foto: Daniel Furxer
„Verstehen, wer wir sind“. Oder ein Haus mit Haltung
Von:
Carina Jielg (Redakteurin ORF Landesstudio Vorarlberg), Bregenz
Schon mal ein Museumsgebäude hochgeklettert? Beim vorarlberg museum in Bregenz liegt dieser Gedanke nahe, ist doch dessen Fassade mit herauskragenden Blüten, die eigentlich Abgüsse von Plastikflaschenböden sind, verziert. Die Fassade ähnelt somit deutlich einer Kletterwand. Obwohl sie keine ist und man von tatsächlichen Besteigungen nur vom Hörensagen weiß, eröffnet die vertikale Blumenwiese einen weiten Referenzraum: Die Kunststoffflaschen sind Produkt eines der größten Arbeitgeber des Bundeslandes, und das Bergsteigen ist ein weiteres Indiz für die Identität des Standorts. Das Gebäude zeigt im Außen, wo es steht, und lässt im Inneren viel zu. Es ist ein ungewöhnliches Mehrspartenhaus, das die Vergangenheit be- und hinterleuchtet, die Gegenwart auf deren Grundlage verhandelt und vielen möglichen Zukünften Raum bietet. Geht es nach Direktor Michael Kasper, sollte das Museum aber auch eines sein: ein dritter Ort.
Carina Jielg: Vorarlberg ist migrantisch geprägt: 29,9 Prozent der gegenwärtigen Bevölkerung sind entweder selbst zugewandert oder Kinder von im Ausland Geborenen. Wie macht man eine Einrichtung wie das vorarlberg museum zu einem Haus, in dem sich die vielgestaltigen Herkunftsgeschichten wiederfinden? Wie macht man es zu einem Ort für alle?
Michael Kasper: Vielleicht, indem man Migration als etwas begreift, das uns alle angeht. Nicht als „Thema“, das man in Ausstellungen als Erzählstrang einflechtet, sondern vielmehr als Grundlage versteht, die in unser aller Geschichten eingeschrieben ist. Vorarlberg ist eine Region, aus der erhebliche Teile der Bevölkerung – zeitweise auch nur temporär – immer schon ausgewandert sind. Das geht sehr weit in die Geschichte zurück und war in allen Phasen so; das schlägt sich in Sprache, Kultur und vielem mehr nieder, darauf wird jedoch häufig vergessen. Vorarlberg als Einwanderungsland ist hingegen ein weit verbreitetes Bild. Klar, es gab – verstärkt ab den 1960er-Jahren – die traditionelle Arbeitsmigration, und es gibt die Fluchtbewegungen der Gegenwart: alle in das Land. Doch wir waren jahrhundertelang, noch bis vor rund 80 Jahren, die Gegend, aus der man ausgewandert oder geflüchtet ist. Oder die Flüchtende passiert haben. Über die Grenze in die Schweiz zu gelangen, war für Unzählige die einzige Möglichkeit, sich vor dem nationalsozialistischen Terrorregime in Sicherheit zu bringen. Dieses Gegenüberstellen von Geschichte und Gegenwart, dieses In-Beziehung-Bringen von eigenen Erfahrungen und aktuellem Weltgeschehen, sehen wir als zentrale Aufgabe. Globale Entwicklungen werden für Menschen nahbarer, greifbarer, wenn man sie mit Begebenheiten vor der eigenen Haustüre in Verbindung bringt. Das ermöglicht emotionale Verbindung und Verstehen. Als Museum geht es darum, diese Haltung in all unseren Formaten im Haus erlebbar zu machen. Das Haus soll eine Art Wegweiser sein.
Carina Jielg: Was braucht es dazu, wie denkt man das?
Michael Kasper: Im kommenden Jahr haben wir den Schwerpunkt Erinnerungskultur. Das knüpft an die angesprochenen Geschichten zur Grenze an, aber wir machen zum Beispiel die Südtirolersiedlungen zum Thema. Die erzählen Geschichte und Gegenwart in vielen Aspekten. Zum einen ist da klar die offensichtliche Entstehungsfrage: Unter welchen politischen Bedingungen wurden die Siedlungen damals gebaut? Für wen, von wem, wieso? Und wie manifestiert sich Politik in der architektonischen Sprache? Bis hin zu Fragen, die für unsere unmittelbare und weitere Zukunft essenziell sind: Was passiert mit diesen Siedlungsbauten – werden sie erhalten, saniert, abgerissen? In Bregenz gibt es aktuell den Plan, einen großen Teil der ältesten Siedlung abzureißen. Was heißt das für die anderen Siedlungen im Land, was heißt das für die großzügigen Grünflächen dieser Siedlungen, die weit über deren Ränder hinaus von Bedeutung sind? Diesen Fragen müssen wir uns als Gesellschaft stellen. Ich sehe das vorarlberg museum als Raum, in dem die Fragen zusammenkommen und eine Plattform für einen Austausch, ein Diskursraum entstehen kann.
Carina Jielg: Bei Ihrer ersten Programmpräsentation haben Sie davon gesprochen, dass Sie das Haus auch als Dritten Ort etablieren möchten. Was meinen Sie damit?
Michael Kasper: Wir nehmen ein Bedürfnis nach solchen Orten wahr, das wird uns aus unterschiedlichen Bereichen gespiegelt – aus der Jugendarbeit, der Altenbetreuung, Erwachsenenbildung etc. Nach Orten, die sicher sind, offen, ohne Konsumzwang, eine ansprechende Qualität des Ambientes bieten, einfach guter öffentlicher Raum unter Dach sind, Begegnungsraum für die einen und Rückzugsort für die anderen. Dabei geht es nicht nur darum, in Ausstellungen oder am Gang Sitzgelegenheiten zu schaffen, sondern einen Rahmen anzubieten, in dem sich ein dritter Ort entwickeln kann. Daran tüfteln wir gerade gemeinsam im Team mit Architektinnen und Planern.
Carina Jielg: Was sehen Sie als größte Veränderung in der Rolle, die Landesmuseen zukommt? Früher standen Forschung, Sammlung, Bewahrung im Vordergrund. Worum geht es heute?
Michael Kasper: Ich würde sagen, bereits seit Ende des 20. Jahrhunderts geht es vermehrt um Vermittlung, Dialog, Diskurs. Erinnerungskultur und Sozialgeschichte sind wichtige neue Themenfelder. Seither hat sich das kontinuierlich weiterentwickelt – in Richtung Vielfalt, Diversität, und spätestens seit der Pandemie geht es stark um globale gesellschaftliche Entwicklungen, um Demokratie- bzw. politische Bildung. Die basalen Grundfesten stehen nicht mehr so sicher; wir müssen wieder verhandeln: Was ist Demokratie, was sind Grundrechte, was sind Menschenrechte? Das ist der Auftrag der Zeit. Wir müssen uns diesem Fokus widmen und dazu selbst Kompetenzen entwickeln. Es geht um die gesellschaftlichen Gegenwarts- und Zukunftsthemen wie Klimaschutz, soziale Nachhaltigkeit. Wir sind herausgefordert, all das in unsere eigenen inneren Abläufe zu integrieren, nicht nur für Ausstellungen mitzudenken.
Carina Jielg: Man kann sich heute alle Sammlungsinhalte, meist auch Ausstellungen, online anschauen. Warum sollten vor allem junge Menschen überhaupt noch ins Museum? Oder ist dieses Real-Erlebnis-Angebot das, was das Museum für die Zukunft rettet?
Michael Kasper: Klar, das Analoge, das Unmittelbare, das Authentische, die Begegnung mit dem Original – das hat eine einzigartige Qualität. Jedoch habe ich meine Zweifel, dass sich das – so wie es derzeit oft gemacht wird – für junge Menschen vermitteln lässt. Ich denke, diese Objekt-Mensch-Begegnung funktioniert heute nicht mehr so einfach. Ich denke, es braucht außerdem mehr Mensch-Mensch-Austausch. Dass das Objekt, bloß weil man vor ihm steht, eine Wirkung entfaltet, ist eine schöne Vorstellung, jedoch meist illusorisch. Aber es kann etwas entstehen, wenn man gemeinsam mit anderen Menschen durch das Museum spaziert. Vermittlung im Rahmen von Führungen gibt es schon lange, bei uns recht neu ist etwa TIM – Tandem im Museum. Die Initiative kommt ursprünglich aus der Schweiz und funktioniert so: Man meldet sich allein oder mit jemandem aus dem eigenen Umfeld an, wird mit einer anderen Person zusammengeführt, entdeckt gemeinsam das Museum, entwickelt eigene Geschichten, tauscht sich aus und kommt dabei kostenlos hinein. Das Museums-Abo für Schulen bringt Klassen viermal mit dem Museum in Kontakt, macht Schüler:innen zu Museums-Guides, eröffnet Einblicke hinter die Kulissen, erreicht einen breiten Bevölkerungsquerschnitt und kann den Grundstein für eine lebenslange Beziehung zum Museum legen.
Carina Jielg: Auf dem seezugewandten Teil der Fassade des Gebäudes steht in großen Lettern der Satz „Verstehen, wer wir sind“. Inwieweit ist das für Sie Programm?
Michael Kasper: Das ist ein großartiger Leitsatz, das ist die Grundfrage, das betrifft alle Aktivitäten. Wir wollen hier keine fertigen Meistererzählungen bieten, wir wollen im Austausch sein, Geschichte als Prozess sehen, ganz viele Perspektiven öffnen. Wir wollen diesen Prozess auch sichtbar machen und haben deshalb im Frühjahr eine künstlerische Intervention zur kolonialen Textilgeschichte Vorarlbergs gezeigt, um auf noch unerforschte Verbindungen wie jene zum Sklavenhandel hinzuweisen. Da Vorarlberg keine Universität hat und es an Forschungskapazitäten mangelt, sind wir auf Kooperationen – vor allem mit der Universität Innsbruck und zunehmend im Bodenseeraum – angewiesen, zumal auch in kulturgeschichtlichen Fächern die Zahl der Studierenden sinkt.
Carina Jielg: vorarlberg. ein making-of war eine Kernausstellung des vorarlberg museums, die von 2015 bis 2022 lief. Seither gibt es keine Ausstellung, die der Frage nachgeht, wie das Land zu dem wurde, was es heute scheint …. Wird da etwas nachkommen?
Michael Kasper: Ja, ganz sicher. Es wird wieder eine Art landesgeschichtliche Ausstellung geben. Wie die aussehen wird oder wie die sich stetig verändern wird, wie so etwas heute erzählt werden kann – das ist gerade Gegenstand unserer Überlegungen, eines internen Strategieprozesses. Ehestmöglich werden wir unsere Pläne dazu öffentlich machen.








