
Sigmund Freuds Couch – eine virtuelle Installation
Von:
Peter Nömaier (Kaufmännische Leitung, Sigmund Freud Museum), Anna Narodoslawsky (Öffentlichkeitsarbeit und Marketing, Sigmund Freud Museum), Wien
Juni 1938: Der 82-jährige Sigmund Freud flüchtet mit seiner engsten Familie und seinem Hab und Gut nach England, um dem Nazi-Regime zu entgehen. Unter den Möbelstücken, die ihm einige Wochen nach seiner Ankunft in sein neues Heim in Maresfield Gardens, London, geliefert werden, befindet sich auch die Couch, auf der sich Freuds Patient:innen liegend der Psychoanalyse unterzogen.
Freud, seine Familie und auch das ikonische Möbelstück, das zum Inbegriff der Psychoanalyse avancierte, kehrten nie wieder in die Berggasse 19 zurück. Dort, wo sie einst stand, befindet sich heute im Museum eine Leerstelle. Seit der Eröffnung des Sigmund Freud Museums 1971 wird über das Fehlen der Couch gesprochen, die Leerstelle wird zu einem zentralen „Objekt“ des Museums. Gäste imaginieren ihre Präsenz im Nachhinein: Besucher:innen, die vor vielen Jahren das erste Mal im Museum waren, fragen sich heute, wo denn die Couch inzwischen hingekommen sei. Eine kollektive Fehlleistung, die Aufschluss gibt über die mythische Bedeutung dieses Möbels.
Im Zuge der Renovierung des Museums 2020 wurde die Dauerausstellung neu konzipiert, dabei war das Fehlen der Couch ein zentrales Motiv. Die Gäste sollten mit der Leerstelle offensiv konfrontiert werden: Die Stelle an der Wand, an der das Möbel stand, wurde freigelegt, übrig bleiben die Löcher jener Schrauben, an denen einst der Wandteppich hinter der Couch befestigt war. Das Fehlen des Möbelstücks soll den Verlust spürbar machen, den die Vertreibung und Ermordung von so vielen Menschen hinterließ – das Sigmund Freud Museum begreift sich seit jeher als Gedenkstätte für die Shoah. Eine Rekonstruktion war nie angedacht, sie würde die Erzählung der historischen Ereignisse verfälschen.
Die Geschichte der Couch – neu vermittelt
Zum Umgang mit der Geschichte der Vertreibung der Familie Freud und dahingehend mit der Entscheidung, die Couch nicht zu rekonstruieren, erhält das Sigmund Freud Museum regelmäßig positives Feedback. Auf der anderen Seite gibt es auch Stimmen, die das Fehlen als Enttäuschung wahrnehmen: Insbesondere in Online-Reviews werden dahingehend negative Kommentare verzeichnet. Wie sich oft zeigt, werden die erklärenden Wandtexte, die die Leerstelle historisch einbetten, von diesen Besucher:innen nicht wahrgenommen. Teilweise wird explizit eine Rekonstruktion der Couch gefordert. Ebenso werden auch die Wünsche nach mehr Interaktivität im Museum lauter. Die Ausstellung kommt weitgehend ohne Screens und Projektionen aus, sie lebt von der Erfahrung der Atmosphäre dieser bedeutenden Wirkstätte Freuds und von der Informationsebene, die sich zum Teil auf die Räumlichkeiten bezieht. Angebote wie ein Video-Raum mit historischen Aufnahmen der Familie Freud oder Hörstationen sind dezent in das Museumskonzept integriert.
Um nun die Hintergründe der Leerstelle zielgerichteter zu vermitteln und den Anforderungen der Besucher:innen entgegenzukommen, haben wir nach einer Lösung gesucht, die im Einklang mit dem analogen Museumskonzept steht und die Aufgabe des Erinnerns an die Shoah mit der notwendigen Feinfühligkeit und Pietät unterstützt.
Ein Workshop des Museumsbundes Österreich zeigte eine für uns geeignete Herangehensweise auf: die Präsentation stellte VR-Installationen von ZAUBAR vor, die über das Mobiltelefon historische Aufnahmen mit dem aktuellen Hintergrund verbinden – umgesetzt unter anderem in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Der sensible Umgang und die beeindruckende optische Verschmelzung von Heute und Gestern in einer Augmented Reality Umgebung überzeugten uns.
Wir wollten Freuds Couch durch eine AR-Applikation digital erfahrbar machen – sie sollte am Mobiltelefon an ihrem ursprünglichen Ort gezeigt werden. Die Umsetzung erwies sich als technisch einfach, im Storytelling als herausfordernder. Einerseits sollte Freuds Couch einfach zugänglich sein, gleichzeitig Informationen zur Geschichte der Vertreibung der Familie erzählen und den Umgang mit der Leerstelle vermitteln. Mit einer Audio-Bild-Kombination wurden wir diesen unterschiedlichen Anforderungen gerecht: Auf die digitale Couch, wurde ein Brief eingebettet – die originale Versandbestätigung der Spedition Bäuml, die den Transport von Freuds Möbeln durchführte, vermittelt die erzwungene Flucht der Familie. Zusätzlich bietet eine Audiospur eine Erklärung zum Umgang mit Freuds Couch sowie ihrer Geschichte.
Technische Umsetzung und Hürden
Die Applikation beruht auf einem CMS von ZAUBAR, mit dem die Animation unter Nutzung der Handykamera positioniert und ausgespielt wird. Der Zugang erfolgt über einen QR-Code, angebracht auf einem Schild im ehemaligen Behandlungszimmer.
Um die Animation der Couch so akkurat wie möglich zu gestalten, wurde das originale Möbel, das sich nach wie vor in Maresfield Gardens befindet, 3D gescannt. Möglich machte dies das Freud Museum London, das uns freundlicherweise Zugang zum wertvollsten ihrer Ausstellungsstücke gewährte.
Zentral in der Konzeption des Projekts war, die Applikation einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen und den Einstieg niederschwellig zu gestalten.
Das wurde auch zur ersten technischen Hürde: Augmented Reality Applikationen werden nicht von allen Betriebssystemen per se unterstützt. Neuere Betriebssysteme können problemlos über eine Webapp auf die Animation zugreifen, bei älteren ist es nur über den Umweg einer eigens installiertenApp zu bewerkstelligen. Diese ist zwar kostenfrei, die User Experience ist damit allerdings nicht mehr optimal.
Bei der Umsetzung waren vor allem die akkurate Platzierung und richtige Größe der Couch eine Herausforderung. Dies erforderte einiges an Nachschärfung seitens der Entwickler:innen. Für den Großteil der Museumsgäste funktioniert die Installation nun reibungslos und leistet so einen didaktischen und interaktiven Beitrag zum Museumserlebnis im Einklang mit dem Ausstellungskonzept.
Die Couch bleibt auch auf den Mobiltelefonen nicht dauerhaft am originalen Ort. Am Ende der Animation verschwindet das Möbel wieder und übrig bleibt auch auf dem Display: eine Leerstelle.
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Credits und Zusatzinfos:
Fotos: Alexander Ch. Wulz
Fotos: Alexander Ch. Wulz