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Irritationen aushalten!

„Es tut einem in diesem Land“, so war es am 17. Juli 2025 in der Tirol-Ausgabe der Kronen Zeitung zu lesen, „ja schon ob vieler anderer Vorkommnisse vor lauter Schütteln manchmal der Kopf weh.“ Doch es sei, so der Kommentar weiter, ein „starkes Stück“ und sage „viel über die Ideologie der Initiatoren“ aus, was im Tiroler Volkskunstmuseum geschehe.

Was war passiert? Im Rahmen des „Innsbrucker Ferienzugs“ – eines von der Stadt organisierten und vom Land Tirol unterstützten Ferienprogramms für Kinder – wurde die Veranstaltung Wir protestieren! Demoschilder gestalten angeboten. Der vom Bereich Kulturvermittlung konzipierte Workshop knüpfte an die aktuelle Ausstellung GERECHT? Geschichten über soziale Ungleichheiten an, in der unter anderem demokratische Grundwerte und Menschenrechte thematisiert werden.

Der Grundtenor der medialen Kritik, die einige Tage später auch in der Tiroler Tageszeitung aufgegriffen wurde, war der Vorwurf, man müsse jungen Menschen „andere Inhalte“ vermitteln und dürfe sie nicht dazu verleiten, „Krawallmacher zu werden“ (so ein Leserbrief). Hinter vielen, mitunter aggressiven Kommentaren verbarg sich die Sorge – oder Empörung? –, Kinder vor dem politischen Alltag beschützen zu müssen.

Dabei steht außer Zweifel, dass die gegenwärtigen Probleme der Welt auch Kinder beschäftigen und sie Möglichkeiten brauchen, ihren Fragen und Gedanken Ausdruck zu verleihen. Die unmittelbare Auseinandersetzung mit historischen Beispielen regt dazu an, über Erfahrungen und Wahrnehmungen von Ungerechtigkeit im eigenen Umfeld nachzudenken, Probleme nicht nur zu erkennen, sondern aktiv anzugehen und damit auch Einfluss zu nehmen. So erproben junge Menschen, dass es in einem demokratischen Verständnis von Meinungsfreiheit möglich ist, einen Standpunkt respektvoll zu formulieren und gehört zu werden. Auf den Protestschildern war unter anderem zu lesen: „Herz statt Hass!“, „Mehr Grün statt Glüh’n“, „Mehr gerechte Menschen!“ oder „Trennt keine Schwarzen von Weißen!“
Lange durfte man davon ausgehen, dass auch außerhalb der „musealen Bubble“ Konsens darüber besteht, dass Museen „Demokratie wagen“ müssen. Doch nicht nur aktuelle Tendenzen in Übersee rütteln an dieser Überzeugung. Umso mehr muss ein Museum ein Ort für Gegensätze und Konsensfähigkeit, für Widersprüche und Kompromisse sein.

Die Wege, die man im Tiroler Volkskunstmuseum hierfür gefunden hat, beruhen auch auf einer Reflexion seiner Historie als regierungspolitisch dienstbarer Ort. Gerade weil es sich dieser Vergangenheit bewusst ist und sich seiner Rolle als politischer Akteur stellt, will es ein „demokratischer Arbeits- und Denkraum für die Gegenwart“ sein – so im Leitbild formuliert. Dies bedingt einerseits unabhängiges Handeln frei von äußeren Einflüssen, fordert aber gleichzeitig Verantwortung und Sensibilität: für das Erinnern, Aufbereiten und Vermitteln des Historischen als Erklärung für Gegenwärtiges, für die Interpretation der aus den jeweiligen Zeitzusammenhängen gesammelten Objekte, für das Aufgreifen und Weiterführen gesellschaftspolitischer Debatten und damit auch der Sammlung.

Die Ausstellung GERECHT? und ihre Vermittlungsaktivitäten bilden einen wichtigen Arbeits- und Denkraum dafür (siehe auch den Beitrag von Lisa Noggler im vorliegenden Band). Neben partizipativen Elementen in der Ausstellung selbst sind es Projekte wie Schüler*innen führen Schüler*innen, die Debattenkultur fördern: Jugendliche wählen Themen und Objekte aus und teilen ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit Gleichaltrigen. Es entsteht ein ebenbürtiger Gedankenaustausch zu gesellschaftlich relevanten Fragen, zu Grund- und Menschenrechten – ein Austausch, der auch respektvolle Streit- und Debattenkultur ist, weil Argumente gefunden, formuliert und Meinungsunterschiede ausgehalten werden müssen.

Mehr performativ und assoziativ ist das Forumtheater, eine Form des politischen Theaters: Symbolhafte Szenen zu Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit werfen Problemfelder auf, die Bezug zur Ausstellung herstellen bzw. durch sie inspiriert sind. Zuschauer:innen können in Dialog treten, indem sie in die Szenen eingreifen und sie zum Besseren wenden – sie erfahren Selbstwirksamkeit durch Teilhabe.

Das Prinzip von Mehrheitsentscheidungen, zentrales Element der Demokratie, seine Vorteile und Grenzen sowie die Frage, wie wir als Gesellschaft verantwortungsvoll mit der Macht der Mehrheit umgehen und wie sie mit sozialer Gerechtigkeit zusammenspielt, wird in einem Demokratieworkshop erörtert und erfahrbar.

Auch das heute selbstverständliche Fest der Vielfalt führte anfangs zu Irritationen und Widerrede bei einem Teil des Stammpublikums. 2013 erstmals von der Integrationsstelle der Stadt Innsbruck (bemerkenswerterweise Teil der Stadtplanung) organisiert, sollte es Menschen unterschiedlicher Herkunft Begegnungen ermöglichen. Zunächst am Marktplatz, einem kleinen Platz in Innsbruck, veranstaltet, übersiedelte es 2016 in den Kreuzgang des Volkskunstmuseums. Anlass war die Zusammenarbeit bei den Ausstellungen Alles fremd – alles Tirol sowie Hier zuhause. Migrationsgeschichten aus Tirol.

Seitdem sind Fest und Museum inhaltlich enger zusammengerückt, etwa durch regelmäßig stattfindende interkonfessionelle und interreligiöse Begegnungen und Workshops. Heute hat sich das Fest zu einem gesellschaftspolitischen Begegnungsort entwickelt: Kulturvereine und NGOs bringen ihre Expertise ein und schaffen Raum für Diskussionen zu Themen wie „menschenrechtskonforme Asylpolitik“, „kulturelle Begegnungen und Konflikte“ oder „Werte im Dialog“. Jährlich nehmen rund 1.400 Menschen teil.
Während sich Interpretation, Präsentation und Vermittlung im Volkskunstmuseum längst damit auseinandersetzen, wie gesellschaftliche Werte und Normen ausgehandelt, Sprache genutzt, marginalisierte Gruppen behandelt und mit anderen Meinungen umgegangen wird, hinkt die Sammlungstätigkeit dieser Entwicklung naturgemäß hinterher.

Inwieweit müssen demokratische Einstellungen alte, hierarchische Sammlungsmuster und das Weitersammeln beeinflussen? Welche Rolle können Besucher:innenorientierung oder Partizipation hier spielen? Wie können historische Objekte mit gegenwärtigen Debatten verbunden werden, und wie lassen sich gesellschaftspolitische Spannungspunkte der Gegenwart dokumentieren? Welche Sammlungsmethoden braucht es dafür?

Am Beispiel des Begriffs „Volkskanzler“ hat man im Tiroler Volkskunstmuseum begonnen, solche Dimensionen zu beleuchten. Der politisch belastete Begriff ist vom Innsbrucker Aktivisten David Prieth als Wortmarke geschützt und wird – in Graffiti-Schriftzug – als „anarchisches Moment des Lachens“ und als Kontrast zur rechtspopulistischen Verwendung auf T-Shirts und Rucksäcken verbreitet. Das Sammeln dieser Textilien und das Dokumentieren ihres Bedeutungsgeflechts nehmen unterschiedliche politische Positionen auf.
Museen, die gefällig sind, nicht auffallen und nicht kontrovers sein wollen, widersprechen dem Anspruch auf Vielfalt, Multiperspektivität und demokratischen Meinungsaustausch. Dazu gehört auch, dass Irritationen ausgehalten werden müssen. Mehr noch: Wie die eingangs erwähnte Kritik am Kinderworkshop und die dazu verfassten Leserbriefe zeigen, erreicht man durch Kontroversen eine größere Öffentlichkeit – und damit die Möglichkeit, Themen zu diskutieren.

Credits und Zusatzinfos: 

Empfohlene Zitierweise
Karl C. Berger, Katharina Walter: Irritationen aushalten!, in: neues museum 25/4, www.doi.org/10.58865/13.14/254/10
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