Foto: G&WM / Louis MaLou
Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum
Ein Ort des Diskurses und des Empowerments
Von:
Christiane Thenius (Leitung COCO lab & COCO fin, Sammlung, Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum), Wien
Das heutige Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum geht auf das von Otto Neurath 1925 gegründete Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien zurück, das auch als Sozialmuseum [1] bezeichnet wurde. Die Institution ist ein Pionier der sozioökonomischen Wirtschafts-, Finanz- und Demokratiebildung sowie der Wissenschaftskommunikation in Wien und ganz Österreich. Mit ihren vielfältigen Vermittlungsmethoden ist sie ein Ort des Diskurses und des Empowerments.
Die 1933 formulierte Vision Neuraths für Museen als Orte, die so sein sollten, „nicht wie ich sie gern haben möchte, sondern wie die Besucher und Benutzer sie sich wünschen würden“ [2], nimmt die Entwicklung von Museen vorweg, die ihre Besucher:innen ins Zentrum rücken. Es handelt sich um Prinzipien, die Anfang des 20. Jahrhunderts sehr fortschrittlich waren und der Idee folgten, dass Museen Orte des Aufenthalts, der Partizipation und des Lernens sein sollten. Otto Neurath, Marie Reidemeister und Gerd Arntz entwickelten in den 1920er- und beginnenden 1930er-Jahren im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum die emanzipatorische, pädagogisch wertvolle und grafisch höchst qualitätsvolle „Wiener Methode der Bildstatistik“ (später ISOTYPE – International System Of Typographic Picture Education [3]) als erfolgreiche Vermittlungsform, die sie in zahlreichen Ausstellungen einsetzten. [4] Mit der bildstatistischen Methode vermittelte das Museum wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Zusammenhänge. Ziel war es dabei, die Wissenslücken zwischen Wissenschaftler:innen (Expert:innen) und Bürger:innen (Lai:innen, Nicht-Expert:innen) zu schließen. [5] Der Anspruch einer emanzipatorischen Wissenschaftskommunikation und folglich einer Demokratisierung des (wissenschaftlichen) Wissens ist auch heute im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum zentral. Denn Wissen um wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Zusammenhänge stellt eine wichtige Voraussetzung für mündige Bürger:innen und eine funktionierende Demokratie dar, die auf wissensbasierten Entscheidungen beruht. Die faszinierende Vermittlungsmethode und die Visionen Neuraths sind mit Blick auf die heutige Bildungslandschaft, Chancengleichheit und die kulturellen Teilhabemöglichkeiten von sozioökonomisch benachteiligten Bürger:innen wieder besonders aktuell.
ISOTYPE reloaded
Daher besinnt sich das Museum auf die Visionen Neuraths und entwickelt diese im 21. Jahrhundert unter der Schiene „ISOTYPE reloaded“ weiter [6]: Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum ist Lern- und Diskursort, der Menschen jeden Alters dazu einlädt, gegenwärtige Entwicklungen zu verstehen und die Zukunft aktiv mitzugestalten. In unserer von Fake News und funktionalem Analphabetismus geprägten Zeit wird der von Otto Neurath und seinem Team eingeschlagene Weg der Aufklärung und Transformation weitergeführt und Neuraths Vermittlungsmethode mittels bildpädagogischer Grafiken in der Tradition der „Wiener Methode der Bildstatistik“ neu im Museum verankert. [7] Die Empowerment-Workshops NEXT STEPS – wohin nach der Mittelschule? und die Ausstellung Was wäre Wien sind erste erfolgversprechende Ergebnisse.
Wissen für alle
Ziel ist es, Menschen darin zu stärken, ihren Alltag zu verstehen, um bestmögliche Entscheidungen für die Zukunft treffen zu können. In einer Wissensgesellschaft wird ökonomisches Wohlergehen durch gewonnene Informationen erweitert, die individuell oder kollektiv – auf jeden Fall aber erfahrungsbasiert – in Wissen umgewandelt werden. Daher kann informelles Lernen in außerschulischen Lernorten wie Museen als sinnvoll erachtet werden. [8]
Demokratiebildung
In den Angeboten des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums geht es auch heute ganz besonders um Demokratiebildung [9]. Fragen wie „Was bedeutet Demokratie und was hat jede/r Einzelne damit zu tun?“, „Wo können wir uns neben Wahlen demokratisch beteiligen und engagieren?“, „Wie sprechen wir miteinander in respektvoller Weise und wie können wir einander wieder zuhören lernen?“ werden diskutiert und bearbeitet. Das Museum stärkt damit das Zuhören und den respektvollen Austausch untereinander und bietet einen Erfahrungsraum, in dem symbolisches Handeln (soziale Medien) hinterfragt und faktisches Handeln gestärkt wird.
Methode der Transformation
Nicht die Sammlungsobjekte stehen im Mittelpunkt des Museums, sondern die Besucher:innen und alle am Museum Beteiligten. Das Team des Museums entwickelt gemeinsam mit Expert:innen, den Vermittler:innen und im Austausch mit den Besucher:innen die Vermittlungsangebote. Dabei werden interaktive Vermittlungsmethoden (Bewegungsstationen, Rollenspiele und Storytelling, Soundinstallationen, Kooperationsspiele, Recherchen, Debatten & Reflexionen, Abstimmungen), die Empathie, Selbstwirksamkeit und Teilhabe fördern, implementiert. Das kleine Team transformiert das Museumsprogramm partizipativ. So wird das Museum durchlässiger und ist weniger ein Ort des Erzählens, sondern ein Ort des Mitmachens, Zuhörens und Diskutierens.
In den beiden Mitmachlaboren COCO lab (Conscious Consumers‘ Laboratory) und COCO fin (Conscious Consumers‘ Finance) findet all das Raum: Beide Vermittlungsbereiche zum Thema Konsument:innenbewusstsein nutzen die Neurath’sche Arbeitsweise der Transformation zur Qualitätssicherung und Verbesserung der Zugänglichkeit der Inhalte. In Teamarbeit und mithilfe eines Systems laufender Feedbackschleifen werden Rückmeldungen, Beobachtungen und Verbesserungsideen zu den Angeboten aufgenommen und implementiert. Dadurch lernt das Museum, seine Besucher:innen, die Vermittler:innen und alle Beteiligten zu verstehen und sich an deren Interessen und Bedürfnissen zu orientieren. Grundlagen für ein gutes Zusammenleben in einer Demokratie – wie einander zuhören, respektvoll miteinander sprechen, faktenbasiert argumentieren, den Unterschied zwischen Meinung und Faktenwissen kennen, einen Konsens finden, über Lösungsansätze abstimmen – all das wird im Museum gelebt.
Credits und Zusatzinfos:
Anmerkungen
[1] Günther Sandner: „Otto Neurath und die Wiener Methode der Bildstatistik“, in: Gernot Waldner (Hg.): Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath, Wien/Berlin 2021, S. 23.
Vgl. auch: Anke de Heesen, Theorien des Museums. Zur Einführung, Hamburg 2012, S. 94f.
[2] Otto Neurath, „Die Museen der Zukunft“, aus dem Englischen „Museums of the Future“, Survey Graphic, Vol.22, No. 9, New York 1933, S. 458–463. Übersetzt von Marie Neurath, in: Rudolf Haller, Robin Kinross, <i>Otto Neurath. Gesammelte Bildpädagogische Schriften</i>, Wien 2020, S. 244 (= Gesammelte Schriften Band 3).
[3] Brian Switzer (Hg.), Marie Neurath, Robin Kinross, Die Transformierer. Entstehung und Prinzipien von Isotype, Zürich 2017, S. 61.
[4] Günther Sandner 2021, S. 23ff.
[5] Alexander Reutlinger, Günther Sandner, in: Gernot Waldner (Hg.), Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath, Wien/Berlin 2021, S. 79–100.
[6] Siehe dazu: Valerie Danzer, Tina Frank, Christiane Thenius, Gernot Waldner, „Isotype Reloaded. Ein Praxisbericht zur visuellen Aufbereitung soziologischer Daten und Erkenntnisse für Wiener Mittelschüler:innen“, in: Katharina Danner, Michael Duncan, Jörg Flecker, Paul Malschinger, Veronika Wöhrer. (Hg.), Lebenswege junger Menschen in Wien – Analysen zu Berufswahl, Engagement und Wohlbefinden, Wien 2025 (= Wege in die Zukunft Band 3).
[7] Die Wiener Methode der Bildstatistik soll im G&WM auch für sehbeeinträchtigte und blinde Besucher:innen inklusiv umgesetzt werden (z. B. in Form von Bildstatistiken zum Tasten).
[8] Claudia Haas, “Families and Children Challenging Museums”, in: Barry Lord (Hg.), The Manual of Museum Learning, Plymouth 2007, S. 49–75.
[9] Neben den Mitmachlaboren COCO lab – Conscious Consumers‘ laboratory, COCO fin – Conscious Consumers‘ finance und NEXT STEPS – Wohin nach der Mittelschule? führt das Museum auch das Angebot Das Parlament kommt zu dir durch.
Anmerkungen
[1] Günther Sandner: „Otto Neurath und die Wiener Methode der Bildstatistik“, in: Gernot Waldner (Hg.): Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath, Wien/Berlin 2021, S. 23.
Vgl. auch: Anke de Heesen, Theorien des Museums. Zur Einführung, Hamburg 2012, S. 94f.
[2] Otto Neurath, „Die Museen der Zukunft“, aus dem Englischen „Museums of the Future“, Survey Graphic, Vol.22, No. 9, New York 1933, S. 458–463. Übersetzt von Marie Neurath, in: Rudolf Haller, Robin Kinross, <i>Otto Neurath. Gesammelte Bildpädagogische Schriften</i>, Wien 2020, S. 244 (= Gesammelte Schriften Band 3).
[3] Brian Switzer (Hg.), Marie Neurath, Robin Kinross, Die Transformierer. Entstehung und Prinzipien von Isotype, Zürich 2017, S. 61.
[4] Günther Sandner 2021, S. 23ff.
[5] Alexander Reutlinger, Günther Sandner, in: Gernot Waldner (Hg.), Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath, Wien/Berlin 2021, S. 79–100.
[6] Siehe dazu: Valerie Danzer, Tina Frank, Christiane Thenius, Gernot Waldner, „Isotype Reloaded. Ein Praxisbericht zur visuellen Aufbereitung soziologischer Daten und Erkenntnisse für Wiener Mittelschüler:innen“, in: Katharina Danner, Michael Duncan, Jörg Flecker, Paul Malschinger, Veronika Wöhrer. (Hg.), Lebenswege junger Menschen in Wien – Analysen zu Berufswahl, Engagement und Wohlbefinden, Wien 2025 (= Wege in die Zukunft Band 3).
[7] Die Wiener Methode der Bildstatistik soll im G&WM auch für sehbeeinträchtigte und blinde Besucher:innen inklusiv umgesetzt werden (z. B. in Form von Bildstatistiken zum Tasten).
[8] Claudia Haas, “Families and Children Challenging Museums”, in: Barry Lord (Hg.), The Manual of Museum Learning, Plymouth 2007, S. 49–75.
[9] Neben den Mitmachlaboren COCO lab – Conscious Consumers‘ laboratory, COCO fin – Conscious Consumers‘ finance und NEXT STEPS – Wohin nach der Mittelschule? führt das Museum auch das Angebot Das Parlament kommt zu dir durch.








