Stelzhamer-Denkmal im Linzer Volksgarten, Foto: Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
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Geschichtsnarrative demokratisch befragen
Eine Vermittlungspraxis des Nordico Stadtmuseums im Linzer Stadtraum
Von: Karin Schneider (Leiterin, Kulturvermittlung, Museen der Stadt Linz), Wolfgang Schmutz (Bildungsberater, Praxisgemeinschaft Hubin/Schneider/Schmutz, Linz), Linz

Eine Auseinandersetzung mit Demokratie im Museum sollte mit jenen Ein- und Ausschlüssen zusammengebracht werden, über die und durch die Geschichte im Museum erzählt wird. Ein Stadtmuseum muss sich dazu in den Stadtraum, den es repräsentiert, hinausbewegen, sich diesem aussetzen. Stadtraum wie Museum sind kuratierte Räume, in denen die Dialektik des Erzählens und Verschweigens, des Zeigens und Nichtzeigens aktiv inszeniert wird. Eine Kritik solcher Geschichtsnarrative braucht ein tieferes, multiperspektivisches Verständnis. Entscheidend dafür ist die Demokratisierung des Lernprozesses durch Methoden, die Teilnehmende wie Vermittler:innen als aktiv Forschende und Fragende positionieren – wie im folgenden Praxisbeispiel gezeigt wird.
 

Exkursion: Stelzhamer und der Linzer Volksgarten 

Der Linzer Volksgarten ist ein öffentlicher Park in der Nähe des Linzer Hauptbahnhofs, der diesen mit der innerstädtischen Hauptachse, der Landstraße, verbindet. In diesem Park, der auch als Treffpunkt für junge Migrant:innen, Jugendbanden oder Drogendealer bekannt ist und nicht weit vom Stadtmuseum entfernt liegt, steht ein 1906 errichtetes Denkmal zur Erinnerung an den Dialektdichter Franz Stelzhamer (1802–1874). 1952 wurden unter der Leitung des Stelzhamer-Vereins einige Verse aus Stelzhamers Dialektgedicht Heimatlied zur oberösterreichischen Landeshymne erklärt; der Dichter wird damit durch das offizielle Oberösterreich bis heute gewürdigt und in der Alltagskultur verankert.
 
Stelzhamer war jedoch nicht nur Dialektdichter. Aus seiner Feder stammt auch „eines der schlimmsten antisemitischen Pamphlete […], die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von einem Künstler publiziert wurden“, so der Autor und Forscher Ludwig Laher. [1] In seiner Essaysammlung Buntes Buch (1852) beschreibt Stelzhamer die Juden als „Riesenbandwurm“, der sich „um die Ernährungsorgane eines jeden kultivierten Staatskörpers schlingen“ würde und dessen Kopf man erwischen müsse, um ihn „auszutreiben“. [2]
 

Verknüpfungen ermöglichen und verstehen lernen 

Um die Wirkungsmacht der „long durée“ des tief in die (ober-)österreichische Kultur eingeschriebenen Antisemitismus genauer zu verstehen, lud das Nordico Stadtmuseum Schulklassen zu einer Forschung am Stelzhamer-Denkmal ein. Die Jugendlichen des folgenden Fallbeispiels kamen aus einer sogenannten „Brennpunkt“-Schule in Linz, aus unterschiedlichen migrantischen Familienkontexten; manche hatten selbst Fluchterfahrung, z. B. aus Syrien. Einige beschrieben die Statue aufgrund ihrer Größe und Körperhaltung als „Übermenschen“ und entdeckten etwas, das auf den ersten Blick kaum wahrzunehmen ist: Auf den Sockeln des Denkmals sind kleine Figuren zu sehen, vermutlich weibliche, die gekrümmt dastehen und „seltsame, unattraktive Kleidung“ tragen, so die Jugendlichen. Als nächsten Schritt nahmen wir uns eine Zeile aus der in Oberösterreich allseits bekannten Landeshymne vor und diskutierten, was diese für uns bedeutet:
 
„Hoamatland, Hoamatland, di han i so gern! Wiar a Kinderl sein Muader, a Hünderl sein Herrn.“ [3]
 
Ein Junge sagte, dass für ihn die Figuren darunter die Hündchen darstellen sollten und der Dichter aussähe wie ihr Besitzer. Worauf ein anderer Junge meinte, dass er sich durch diese Hymne nicht angesprochen fühle, da sie (er meinte damit Menschen aus migrantischen Familien) ohnehin sich eher wie „Mitbewohner“ fühlen würden, und er fügte hinzu, dass er das erste Mal in seinem Leben froh sei, nicht mitgemeint zu sein, da ihm so erspart bliebe, ein „Hünderl“ sein zu müssen. [4]
 

Deutungshoheit demokratisieren 

So eine Aussage bringt die Ein- und Ausschlüsse, die diese Jugendlichen tagtäglich in (Ober-)Österreich erleben, auf den Punkt. In der Vermittlungsaktion gelang es ihnen, die über das Denkmal und die Zeilen Stelzhamers vermittelte Zeit der völkisch-nationalen Identitätsbildung des 19. Jahrhunderts mit ihrem eigenen heutigen Erleben der durch eben diese Identitätsbildungen festgelegten Ausschlüsse zu verknüpfen. Der in der Geschichtsvermittlung so oft geforderte „Gegenwartsbezug“ wurde in dieser Situation nicht von den Vermittler:innen inszeniert, sondern von den Jugendlichen aufgespürt. Ihre eigene Österreich-Wahrnehmung ist die wesentliche Grundlage dafür, diese Gegenwart überhaupt so beschreiben zu können und deren historische Wurzeln tiefer zu verstehen. Anhand der oben angesprochenen Textstelle aus Stelzhamers Essay Jude konnten wir anschließend diskutieren, dass die Juden zu Stelzhamers Zeit kein Teil seiner (durch die Landeshymne heute noch gültigen) Konstruktion von „Heimat“ waren und sie auch nicht zu dem am Sockel dargestellten „Volk“ gehörten. Die Vermittler:innen transferierten ihr Vorwissen in eine gemeinsame Beforschung der Materialien, um die Deutungsarbeit der Teilnehmenden relevant werden zu lassen. .[5]
 

Verstehen, wie wir sind, wer wir sind

Eine solche Auseinandersetzung mit Stelzhamer half dabei, das 19. Jahrhundert mit dem Holocaust und der Gegenwart, den Prozess der nationalen Selbstfindung mit dem Antisemitismus in Österreich zu verbinden. Damit konnten wir die Frage nach der Beschaffenheit jener Geschichtsnarrative stellen, die uns heute noch prägen und den Referenzraum heutiger Demokratien bilden. Ein solches Verständnis benötigt die jeweils eigene Einsicht und die gemeinsame Bedeutungsproduktion („joint meaning making“) der teilnehmenden Jugendlichen. Sie bringen damit auch ihre spezifischen Geschichte(n), ihre Kontexte und deren Widersprüche sowie ihre Erfahrungen mit den Bruchlinien österreichischer Gesellschaft auf den Tisch. Dies zu ermöglichen, ist die Voraussetzung für gemeinsame Aushandlungsprozesse – auch darüber, wie wir uns diese geteilte und differente Geschichte z. B. des Antisemitismus erzählen wollen. Damit jedoch eine solche Öffnung gelingt, müssen die Bildungsprozesse selbst demokratisch aufgesetzt sein – sowohl was die Methoden betrifft als auch die Rahmenbedingungen.
 

Weiter stolpern, weiterforschen

In der Vorbereitung für die Teilnahme an der Aktion Stolpern – Ein Stadtspaziergang zu einstürzenden Narrativen und spekulativen Neubesetzungen der Künstler:innengruppe F.I.S.T. [6] bei der die Kunstvermittlung des Nordico Stadtmuseum als Kooperationspartnerin beteiligt war und an der die Praxisgemeinschaft Hubin/Schneider/Schmutz mitwirkte [7], verstanden wir den Volksgarten zunehmend als Myzel einer geschichtspolitischen Volkskonstruktion, das es noch offenzulegen gilt: In unmittelbarer Nähe zum Stelzhamer-Denkmal und direkt neben dem Basketballplatz steht eine Büste des „Turnvaters“ Jahn, zu Stelzhamers Zeit der Begründer der deutschnationalen, völkischen und antisemitischen Turnerbewegung. Auch der Ring des Nibelungen (Wahrzeichen des Musiktheaters, das sich auf der anderen Seite des Parks befindet und damit deckungsgleich mit den letzten stadtplanerischen Vorstellungen Adolf Hitlers) ließe sich über (deutsche) Identität stiftende, antisemitische Volksmythen mit Stelzhamer, Jahn oder dem ebenfalls im Volksgarten anwesenden Naturheilkundler Sebastian Kneipp verbinden. Fortsetzung folgt.
 
Bereits jetzt begeben sich im Rahmen der Nordico-Reihe Wir öffnen die Box [8] weitere Exkursionen in den Linzer Stadtraum, die Grundprinzipien der Stelzhamer-Beforschung aufgreifen und erweitern – etwa indem städtische Verantwortungsträger in die offenen Forschungsaktivitäten eingebunden werden. Im Auftrag der Stadt Wien erarbeitet die Praxisgemeinschaft Hubin/Schneider/Schmutz [9] zudem derzeit das partizipative Lerntool Baustelle Antisemitismus, das unter Beteiligung der Stadtgesellschaft sowie in Kooperation mit dem Wien Museum entsteht, um Narrative im Stadtraum zu befragen.

Credits und Zusatzinfos: 

Anmerkungen

[1] Petra-Maria Dallinger (Hg.), Der Fall Franz Stelzhamer. Antisemitismus im 19. Jahrhundert, Plöchl 2014, www.stifterhaus.at/fileadmin/user_upload/Der_Fall_Franz_Stelzhamer.pdf (12.08.2025)
[2] Vgl. ebenda (12.08.2025)
[3] Text der oberösterreichischen Landeshymne, www.land-oberoesterreich.gv.at/Mediendateien/Formulare/Dokumente%20PraesD%20Abt_Pr/text_ooelandeshymne_hoamatgsang.pdf (12.08.2025)
[4] Zur Analyse und Reflektion dieser Vermittlungserfahrungen siehe: ​​Karin Schneider „The Challenges of Doing Multidirectionality. Co-Researching the Own Practice on Holocaust Education in the City Museum of Linz”, in: Journal of Museum Education, 49(1), 2024, S. 69–87, doi.org/10.1080/10598650.2024.2309436 (12.08.2025) sowie Karin Schneider „‘Ist Linz nicht von Hitler entstanden‘.  In einem Stadtmuseum über Nationalsozialismus sprechen”, in: Monika Sommer, Nora Sternfeld, Nora, Luisa Ziaja u. a. (Hg.): Nicht einfach ausstellen: Kuratorische Formate und Strategien im Postnazismus, De Gruyter 2025, S. 53-63.
[5] Zu den Grundprinzipien und der Methodologie eines solchen Participant-Centered Learning siehe Wolfgang Schmutz, Yariv Lapid, Paul Salmon, „In Search of Meaning and Relevance: Applying Participant-Centered Learning at Holocaust Sites“, Journal of Museum Education, 49(1), 2024, S. 88–107, doi.org/10.1080/10598650.2024.2309860 (12.08.2025)
[6] STOLPERN. Ein Stadtspaziergang zu einstürzenden Narrativen und spekulativen Neubesetzungen, fist.servus.at/projekte/stolpern/ (12.08.2025)
[7] Andrea Hubin, Karin Schneider: SCHAU-MEDI(T)ATION im Volksgarten Linz, 23.03.2025, Beitrag der Praxisgemeinschaft Hubin/Schneider/Schmutz im Rahmen des F.I.S.T.-Projekts Stolpern – Ein Stadtspaziergang zu einstürzenden Narrativen und spekulativen Neubesetzungen. Vorgestellt bei der Fachtagung 80 Jahre danach. NS-Erinnerungsarbeit in künstlerischer Praxis und Vermittlung heute (OEDA, erinnern.at).
[8] Laufendes Programm unter www.nordico.at/programm/fuehrungen-veranstaltungen/wir-oeffnen-die-box-gemeinsam-ueber-schwierige-geschichte-sprechen (12.08.2025)
[9] Gemeinsam mit der Kunstvermittlerin Andrea Hubin bilden Karin Schneider und Wolfgang Schmutz die Praxisgemeinschaft Hubin/Schneider/Schmutz
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