Teil 3 des Wandbilds Migrationshintergrund München von Matthias Weinzierl, Foto: Matthais Weinzierll.
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Die Galerie Einwand am Münchner Stadtmuseum: Ein partizipativer Kulturraum für antirassistisches Kuratieren und eine postmigrantische Erinnerungskultur

Wie eine Art Pop-up-Store, direkt vom belebten Sebastiansplatz zugänglich, betrieb das Münchner Stadtmuseum von 2021 bis 2023 die Galerie Einwand. Dieser offene Kulturraum schuf die Möglichkeit, neue partizipative Ausstellungsformate zu erproben, spontaner zu agieren als es im größten kommunalen Museum Deutschlands oft möglich ist, und auch kleinere Veranstaltungen, Workshops und Performances zu beherbergen. Einzelkünstler:innen und Kollektive sowie zivilgesellschaftliche Organisationen eigneten sich die Galerie Einwand auf Einladung oder Anfrage schnell an und realisierten fast 20 unterschiedlichste Projekte zur Geschichte und Gegenwart des postmigrantischen Münchens. Auf einer Wand mit zwei Seitenwänden ging es also gut zweieinhalb Jahre um die Einwände der Eingewanderten: Ein Rückblick!
 
Nach langen Vorbereitungen konnte man ab Dezember 2020 durch die verglaste Ladentür und das Schaufenster in den beleuchteten Raum und das auf der Rückwand angebrachte Wandbild blicken, das der Münchner Grafiker und Aktivist Matthias Weinzierl entworfen hat. Auf fast 21 Meter Länge erzählt die drei Meter hohe Collage anhand historischer Fotografien und grafischer Elemente von der Geschichte der Ankunft in München, von Arbeit und Freizeit sowie von migrantischen Protesten in der Stadt. Weinzierl, der selbst viele Jahre beim Bayerischen Flüchtlingsrat aktiv war und Mitbegründer der Sozialgenossenschaft Bellevue di Monaco ist, prägte mit den von ihm entworfenen Protestplakaten, T-Shirts und Aufklebern das Erscheinungsbild der antirassistischen Szene Münchens wie kein Zweiter. Mit seinem Wandbild Migrationshintergrund München setzte er der Migrationsgesellschaft ein halböffentliches Denkmal. Leerstellen auf der Collage sollten später von Besucher:innen der Galerie durch Aufkleber, Beschriftungen und Zeichnungen ergänzt werden. Paradoxerweise war es gerade der Erfolg des offenen Galeriekonzepts, der dann dazu führte, dass diese Idee nie umgesetzt und das Wandbild nach etwa zehn Monaten wieder abgenommen wurde. Denn alle Beteiligten waren sich schnell einig, dass es eine zu starke Präsenz hatte, um Kooperationspartner:innen tatsächlich eine offene Gestaltung zu ermöglichen.
 

Migrationsgeschichte aus der Perspektive der „Ersten Generation“ 

Für die erste Intervention, eine Ausstellung zur Geschichte der griechischen Einwanderung in die bayerische Landeshauptstadt, bildete der Migrationshintergrund München noch das perfekte Panorama. Diese gemeinsam mit der Münchner Autorin Eleni Tsakmaki kuratierte Ausstellung mit dem Titel MIGRED. Migration Griechenland – Deutschland war bereits im März 2020 zum sechzigsten Jahrestag des deutsch griechischen Anwerbeabkommens in der Galerie Köşk erstmals gezeigt worden. Eleni Tsakmaki, selbst als sogenannte Gastarbeiterin 1961 nach Deutschland gekommen, war eine der ersten, die Anfang der 1990er Jahre die Geschichte der griechischen Zuwanderung aufschrieb und dokumentierte. Ihre beeindruckende Sammlung von Fotos und Objekten fand bereits bundesweit in Ausstellungen Verwendung. Durch die Pandemie und die damit verbundene Schließung aller Museen und Galerien, konnte die wahrscheinlich bis dahin größte Ausstellung zu diesem Thema leider nur eine Woche lang besucht werden. Insbesondere bei den griechischstämmigen Münchner:innen, aber auch darüber hinaus, fand die Ausstellung großen Zuspruch. Deshalb wurden von Mitte April bis Mitte Juli 2021 große Teile erneut in der Galerie Einwand präsentiert.[2] Wie schon in der Galerie Köşk waren die Kuratorin oder Familienangehörige während der Öffnungszeiten in der Ausstellung anwesend, um bei Bedarf Besucher:innen persönlich durch den Rundgang zu begleiten. 

Für die an MIGRED anschließende multimediale Installation UNebenBild. Ogledalo, entworfen von den Kulturschaffenden des Münchner Vereins Balkanet, wurde der Galerieraum komplett umgestaltet. Die großen bedruckten Paneele des Wandbildes passten nicht in das Design der von Asmir Šabić, Nils Nebe, Denijen Pauljević und Iris Špringer kuratierten Ausstellung und wurden deshalb im Einverständnis mit dem Künstler abgenommen. Balkanet e.V. organisiert seit über 25 Jahren Menschen mit Bezug zu Südosteuropa und bietet ihnen ein Forum für zeitgenössische Kunst und Kultur. Ihre Erfahrungen und Erinnerungen an Krieg, Flucht und Genozid sind in ihrem Alltag allgegenwärtig, werden aber nur selten erzählt und gehört. Die immersive Ausstellung gab diesen zu wenig beleuchteten Perspektiven einen Raum und bot eine öffentliche Plattform zum Erzählen und Erinnern.[3]

Freundliche Übernahme: Migrantenstadl goes Galerie Einwand

Zum Zeitpunkt der Eröffnung von UNebenBild. Ogledalo hatte die Münchner Künstlerin und Aktivistin Tunay Önder im Rahmen einer einjährigen Elternzeitvertretung bereits die Kuration der Galerie übernommen. Mit ihrem „Gastspiel“ wurde die Galerie Einwand schnell zu einem beliebten Treffpunkt der postmigrantischen Szene Münchens. Bekannt durch ihren Blog Migrantenstadl und die gleichnamige Publikation sowie durch zahlreiche Performances und Interventionen, weckte Tunay Önder bei vielen Akteur:innen der Migration Interesse an der Galerie und gab dem Programm einen sehr persönlichen Anstrich. Den Jahreswechsel 2021/22 nutzte sie für die Schaufensterinstallation Ghosted Archive, die das Fehlen migrantischer Quellen durch eine dreiteilige Videoarbeit thematisierte. Gemeinsam mit Anton Kaun produzierte sie einen Trailer, der den offenen und widerständigen Charakter der Galerie unterstreicht. Ihrer Einladung folgend streamten die beiden Podcasterinnen Şahika Tetik und Hülya Weller drei ihrer Çay mal ehrlich Folgen aus der Galerie Einwand.[7] Fortwährend lud Tunay Önder dazu ein, gemeinsam mit ihr bei einem Tee über die Migrationsgeschichte der Stadt zu sprechen, Objekte für die Sammlung des Münchner Stadtmuseums abzugeben, Allianzen zu schmieden und neue Formate für die Galerie Einwand zu entwickeln. Insbesondere beim Çay Open Air im Mai 2022 kamen dieser Einladung viele Münchner:innen nach. 

Gedenkraum, Archiv und gesellschaftliche Aushandlungen

Mit Kein Vergessen: 22.07.2016 erinnerten Schüler:innen aus München unter Anleitung der Regisseurin Christine Umpfenbach und des Autors Denijen Pauljević im März und April 2022 an den Anschlag am Olympia Einkaufszentrum. Die Galerie Einwand war nun zugleich Gedenkraum und Forum für die Forderung nach einer würdigen kollektiven Erinnerung an die neun ermordeten Jugendlichen und den rechtsterroristischen Hintergrund der Tat. 
Es folgten Projekte wie die Münchner Tanzgeschichten über die lokale Tanzkultur, das We Manifesto, das Erfahrungen und Forderungen von Kulturschaffenden formulierte, und mit Na bistren! Vergesst nicht! ein musikalisch-filmischer Abend in Erinnerung an den Widerstand der Roma während der NS-Zeit. 

Kabinettausstellung Radio Free Europe

Von September 2022 bis zum März 2023 beherbergte die Galerie Einwand die von Hannah Maischein, Münchner Stadtmuseum, und Jutta Fleckenstein, Jüdisches Museum München, kuratierte und vom Büro UnDesignUnit gestaltete Kabinettausstellung Radio Free Europe. Stimmen aus dem Kalten Krieg.[4] In beiden Häusern wurden Objekte und Interviews zur Geschichte des wohl wichtigsten US-Propaganda-Senders im Kalten Krieg präsentiert. Die in München meist von antisowjetischen Migrant:innen produzierten Sendungen richteten sich in 28 verschiedenen Sprachen an die Bevölkerungen osteuropäischer und asiatischer Länder, waren aber aufgrund der in den Sendungen gespielten amerikanischen Musik bald auch in Deutschland beliebt.
 

Kunst, Kollektiv und Versammlungen

Im letzten Jahr vor der lang geplanten Sanierung des Münchner Stadtmuseums bot die Galerie Einwand dann vor allem Platz für künstlerische Auseinandersetzungen. Die Münchner Fotografin Barbara Donaubauer lud Geflüchtete in München ein, Mehr als ein Bild von sich in der Galerie zu hinterlassen. Sie portraitierte Menschen unterschiedlicher Herkunft und bot ihnen an, neben ihrem Portrait auch eine schriftliche Botschaft zu hinterlassen.[5] Die Fototermine und insbesondere die Vernissage waren ein Raum für Austausch und Begegnung zugleich. Daran anschließend setzte sich die Berliner Video-Künstlerin und Forscherin Yara Haskiel im Mai in ihrer Arbeit we can never fly first class mit dem familiären (Nicht-)Erinnern an ihren Großvater Samuel Haskiel auseinander, der in Thessaloniki aufwuchs, als einziger in seiner Familie die Shoa überlebte und schließlich legendäre Musikbars und Restaurants in München betrieb: Ein „unverblümt proletarischer Blues“ (Y. Haskiel) über das Überleben, intergenerationelle Traumata und die Verbundenheit scheinbar getrennter Migrationsgeschichten.
 
Vor und während der Pride Weeks im Juni 2023 eigneten sich dann Künstler:innen des Kollektivs Queer-Raum die Galerie Einwand an. In einem mehrwöchigen Prozess, der durch Abendveranstaltungen begleitet wurde, verwandelten sie Galerie und Sebastiansplatz in ein offenes Atelier und schufen ein gemeinsames Kunstwerk, das die Frage Wer bin ich wo? verhandelte. Dabei kamen verschiedene intersektionale Subjektivierungen zur Sprache, die von queeren Identitäten, Migrationsbiografien und prekären Bedingungen für die Kunst geprägt sind.[6] 

Für die letzte Intervention im Sommer und Herbst 2023 konnte, gemeinsam mit der Münchner Aktivistin Modupe Laja, der aus Südafrika stammende Berliner Fotograf …thabo thindi gewonnen werden. Seit er 2009 seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegt hat, portraitiert er unter dem Titel Black faces in white? space Schwarze Menschen in Deutschland und dokumentiert zugleich ihre antirassistischen Kämpfe. Für die Galerie Einwand präsentierte er ausgewählte Werke aus dieser Arbeit, reiste aber vorab auch nach München, um Schwarze Münchner:innen zu treffen und zu fotografieren.[6] Belgeitet wurde die Ausstellung durch ein von Modupe Laja kuratiertes Rahmenprogramm mit dem Titel SICHTBAR. SCHWARZ? Repräsentation zählt, das verschiedene Workshops, Talks und Performances umfasste. Sowohl die Ausstellung als auch das Rahmenprogramm stießen auf großes Interesse und Rückhalt in den Schwarzen Communities der Stadt.
 

Antirassistisches Kuratieren heißt Räume für Einwände schaffen

In einer Gesellschaft, die durch Kolonialismus und Rassismus geprägt wurde, alte Ausschlüsse reproduziert und neue produziert, kann es auch für Museen nicht länger ausreichend sein, Rassismus lediglich kritisch zu hinterfragen oder rassistische Zuschreibungen in Ausstellungen zu unterlassen. Um in einer von Migration geprägten posthomogenen Gesellschaft (Laing 2022) anschlussfähig und relevant zu bleiben und um dem gesellschaftlichen Auftrag zur demokratischen kulturellen Bildung gerecht zu werden, benötigt es neue Praktiken der Partizipation und Zusammenarbeit, die Repräsentations- und Resonanzräume für rassistisch diskriminierte und marginalisierte Gruppen eröffnen.[7] Mit der Galerie Einwand hat das Münchner Stadtmuseum den Versuch gewagt, dauerhaft einen solchen Raum anzubieten. Die im Januar beginnende Generalsanierung und die damit verbundene siebenjährige Schließung des Hauses bedeutet auch für die Galerie Einwand eine Zwangspause. Die in der Galerie realisierten Projekte zeichneten sich durch eine offenere, spontanere Form der Zusammenarbeit mit der Migrationsgesellschaft aus und bildeten in allen Fällen den Rahmen für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und Kontaktzonen, für Perspektivwechsel und neue Allianzen. Nicht zuletzt die Abschlussveranstaltung, zu der nahezu alle beteiligten Gruppen und Einzelpersonen kamen, um sich über ihre Projekte auszutauschen, zeigte, dass es in Stadtgesellschaften ein starkes Bedürfnis nach Räumen wie der Galerie Einwand gibt, die zugleich Selbstorganisation, Repräsentation und Austausch ermöglichen.[8]

Credits und Zusatzinfos: 
Simon Goeke: Die Galerie Einwand am Münchner Stadtmuseum: Ein partizipativer Kulturraum für antirassistisches Kuratieren und eine postmigrantische Erinnerungskultur, in: neues museum 24/1-2, www.doi.org/10.58865/13.14/2412/8.

Fußnoten:
[1] Vgl. Eleni Delidimitriou-Tsakmaki, MIGRED. Beiträge zur griechischen Migration aus Dokumenten, Erzählungen und Fotos, Migration Griechenland – Deutschland, 60 Jahre und wir sind immer noch da, München 2020.
[2] Der Eröffnungsabend in der Galerie Einwand fand auf Grund der Pandemie nur als Video-Aufzeichnung statt: https://youtu.be/AFCF63pxG9c? [13.02.2024].
[3] Video zur Ausstellung: https://youtu.be/O0-FV6d1VnA? [13.02.2024].
[4] Für Ausstellungsansichten siehe: https://undesignunit.com/radio-free-europe-stimmen-aus-muenchen-im-kalten-krieg [13.02.2024].
[5] Die entstandenen Portraits und Schrifttafeln wurden für die Sammlung des Münchner Stadtmuseums angekauft, siehe: https://sammlungonline.muenchner-stadtmuseum.de/liste/alben/more-than-a-picture-being-refugee [13.02.2024].
[6] Die entstandene Serie „Münchners“ wurde für die Sammlung des Münchner Stadtmuseums angekauft. Siehe: https://sammlungonline.muenchner-stadtmuseum.de/liste/alben/black-faces-in-white-space [13.02.2024].
[7] Vgl. Natalie Bayer, Mark Terkessidis, „Über das Reparieren hinaus. Eine antirassistische Praxeologie des Kuratierens“, in: Natalie Bayer, Belinda Kazeem-Kamiński, Nora Sternfeld (Hg.), Kuratieren als antirassistische Praxis, Berlin/Boston, S. 50–71; Tunay Önder, „Kanakisierung der Kultur. Engagierte Kulturarbeit in der postkolonialen Migrationsgesellschaft“, in: Yalız Akaba, Alisha M.B. Heinemann, Alisha M.B. (Hg.): Erziehungswissenschaften dekolonisieren. Theoretische Debatten und praxisorientierte Impulse, Weinheim 2023, S. 380–­387, hier: S. 385.
[8] Aufzeichnung der Veranstaltung zu finden unter https://www.youtube.com/live/wo_RNhEvCuw?feature=shared&t=100  [13.02.2024].
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