Denkmal für Jan Karski im Park der Überlebenden, das an sein Engagement als Kurier der polnischen Heimatarmee und Augenzeuge des Holocaust erinnert, Foto: Zorro2212, Wikimedia CC BY 3.0
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Denken in Bildern: Wie Gedenkstätten wirken
Ein Erfahrungsbericht

Im Rahmen der historisch‑politischen Bildung spielt der Besuch von NS‑Gedenkstätten eine zentrale Rolle. Bert Pampel, Leiter der Dokumentationsstelle der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, vertritt die These, dass der Besuch einer Gedenkstätte ein „zutiefst subjektiver Prozess“ sei, bei dem Bilder und räumliche Inszenierungen emotionale Resonanz erzeugen, die in ihrem Nachhall über die bloße Informationsvermittlung hinausreicht. Im Zuge der Digitalisierung von historischen Räumen, insbesondere durch Augmented Reality und Virtual Reality, stellt sich jedoch die Frage, ob mit dem Ableben der letzten Zeitzeug:innen auch die realen Orte von NS‑Terror und Vernichtungspolitik an Bedeutung verlieren.

Im Frühjahr 2025 nahm ich daher an einer Exkursion nach Łódź teil, um mir ein Bild von der Erinnerungskultur im ehemaligen Ghetto Litzmannstadt zu machen. Ländlich gelegene Erinnerungsorte wie die vormaligen Konzentrationslager Dachau, Neuengamme und Mauthausen kannte ich aus der persönlichen Anschauung. Historisch belastete Orte der NS‑Geschichte in Osteuropa stellten bislang nur Punkte auf einer Landkarte dar. Die unmittelbare Einbettung und Ausdehnung eines Ghettos im Stadtraum konnte ich mir kaum vorstellen.

Geschichte des Ghettos Litzmannstadt

Im 19. Jahrhundert war Łódź ein Zentrum der polnischen Textilindustrie und verfügte über eine der größten jüdischen Gemeinden Europas. Wenige Tage nach dem Angriff auf Polen wurde die Stadt von deutschen Truppen besetzt. Bereits im Oktober 1939 verbot man Juden den Textilhandel, im November brannten die Synagogen.
Im Februar 1940 ordneten die Behörden eine Umsiedlung aller Juden in das Armenviertel Bałuty an, das weder über eine Kanalisation noch über medizinische Infrastruktur verfügte. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln war unzureichend. Im Ghetto starben etwa 43.500 Menschen, die verhungerten oder an Misshandlungen und Krankheiten zu Tode kamen. Nur etwa 870 Menschen erlebten die Befreiung des Ghettos am 17. Januar 1945.

Historische Altstadt – moderne Urbanität

Wir trafen uns an einem späten Freitagabend am Wiener Hauptbahnhof: Rund 30 Teilnehmer:innen der vom ÖH Wien in Zusammenarbeit mit dem Verein Gedenkreisen organisierten Busreise. Es regnete, die Fahrt war anstrengend, übermüdet und hungrig erreichten wir Łódź am folgenden Morgen.
Der erste Tag begann mit einer Führung durch die historische Altstadt. Ein launiger Guide begleitete uns durch geometrisch geordnete Straßen und Bauten, die Łódź als ehedem rasch wachsende Industrie‑ und Arbeiterstadt ausweisen. Die sog. Schachbrettarchitektur des 19. Jahrhunderts ermöglichte eine effiziente Steuerung städtischer Infrastruktur und Verwaltung und garantierte zudem ein Höchstmaß an sozialer Kontrolle. Raumordnungen dieses Typs wertete Michel Foucault als ein zentrales Instrument von Macht‑ und Herrschaftspolitik. Für Łódź im Zeitraum 1939 bis 1945 beinhaltete dies den geordnet verlaufenden Transfer und anschließenden Transport von Millionen Menschen in die Vernichtungslager des Ostens.

Vorerst sahen wir pittoreske Straßenzüge aus dem 19. Jahrhundert, original erhaltene und revitalisierte Altbauten in unmittelbarer Nachbarschaft zu Wolkenkratzern sowie das riesige Areal der ehemaligen Textilfabrik Poznański. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Epochen und Baustile war beeindruckend, und wir erfuhren darüber hinaus, dass Łódź über eine lebendige Museums‑ und (Sub‑)Kulturszene verfügt und als Zentrum der polnischen Filmindustrie gilt.
Roman Polański, selbst Jude und ein im Untergrund Überlebender des NS‑Regimes, studierte hier von 1954 bis 1959 an der hiesigen Hochschule „Leon Schiller“ und verfilmte mit großem Erfolg u. a. die Autobiografie des jüdischen Pianisten Władysław Szpilman.

Bislang war meine Vorstellung von Łódź mit Grautönen unterlegt gewesen, untrennbar verbunden mit Bildern von Schmutz, Armut, Hunger und Holocaust. Ich ergänzte mein fachwissenschaftliches Vorurteil um die Erfahrung, dass das heutige Łódź eine vielseitige Geschichte und Gegenwart aufweist, die sich auf das Thema Holocaust nicht reduzieren lässt – wenngleich zahlreiche Verbindungen zur Zeit des Nationalsozialismus bis heute erkennbar bleiben. Dies ist nicht zuletzt einer Erinnerungskultur geschuldet, die sich von anderen Orten faschistischer Gewaltpolitik deutlich positiv unterscheidet.

Centrum Dialogu im. Marka Edelmana

Das 2014 etwas außerhalb gelegene Centrum Dialogu ist eine städtische Kultureinrichtung. Niemand der von uns befragten Passant:innen hatte uns den Weg dorthin zeigen können – selbst nach Vorlage eines Übersichtsplans mit genau ersichtlichem Verzeichnis. Schilder fanden wir keine oder wir haben sie übersehen. Das Grau meines Vorurteils über Łódź näherte sich der Realität, zumal die Peripherie weitaus weniger schick und schön ausfiel als die herausgeputzte Innenstadt.
Das Centrum Dialogu im. Marka Edelmana, benannt nach dem letzten Kommandanten des Warschauer Aufstands, unterstützt Gedenkprojekte und fördert mit Ausstellungen, Zeitzeugengesprächen und Diskussionen den interkulturellen und ‑religiösen Dialog.
In einem Einführungsvortrag wies ein Mitarbeiter auf die besondere Rechtslage Polens bei der Behandlung des Themas Nationalsozialismus hin. 2018 hatte die Regierung das Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens, sog. „Holocaust‑Gesetz“, verabschiedet. Es sollte die Verwendung von Begriffen wie „polnische Todeslager“ unterbinden, da diese von deutscher Täterschaft und Verantwortlichkeit ablenkten. Auch die Behauptung einer polnischen Beteiligung an Verbrechen gegen die Menschlichkeit –  also die Kollaboration polnischer Bürger:innen und Behörden mit den Nationalsozialisten – wurde unter Strafe gestellt: Wer öffentlich und entgegen den Tatsachen dem polnischen Volk oder dem polnischen Staat die Verantwortung oder Mitverantwortung für von dem Dritten Deutschen Reich begangene Nazi‑Verbrechen zuschreibt, wie sie in Artikel 6 der Charta des Internationalen Militärgerichtshofs vom 8. August 1945 festgelegt sind, oder andere Straftaten, die Verbrechen gegen den Frieden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen darstellen, oder wer anderweitig die Verantwortung der tatsächlichen Täter dieser Verbrechen grob herabsetzt – wird mit einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft. Das Urteil wird öffentlich bekannt gemacht. (Artikel 55a)

Yad Vashem und US‑amerikanische Organisationen kritisierten, das Gesetz gefährde die Freiheit der Forschung. Historiker:innen warnten, die Aufarbeitung der Mittäter:innenschaft von Teilen der polnischen Bevölkerung und Verwaltung werde kriminalisiert. Nach internationalen Protesten kam es im Juni 2018 zu einer Novellierung. Die Kernaussagen des Gesetzes blieben bestehen, Verstöße werden seitdem jedoch nur noch zivil‑ statt strafrechtlich verhandelt. Kunst und Wissenschaft sind von der Regelung ausgenommen.

Wir verstanden nun, warum der vorherige Guide vor Fragen nach der Mittäter:innenschaft der polnischen Bevölkerung gewarnt hatte. Auch sei die unreflektierte Verwendung des Begriffs „Ghetto“ („Where is the ghetto?“) zu vermeiden – dieses existiere de facto nicht mehr. So weit, so gut.

Park Ocalałych – Park der Überlebenden

Im Anschluss folgten wir dem Mitarbeiter des Zentrums in den Park der Überlebenden, der 2004, zum sechzigsten Jahrestag der Auflösung des Ghettos, auf Initiative einer Überlebenden angelegt worden war. Zwischen sechshundert Bäumen, die je einem Holocaust-Überlebenden namentlich gewidmet sind, stehen großformatige Denk- und Mahnmale: Ein Denkmal für Polen, die Juden retteten, versehen mit den Namen der „Gerechten unter den Völkern“, ein Denkmal für Jan Karski, den Kurier der polnischen Heimatarmee und Augenzeugen von Auschwitz, eine Stele aus Granit, die an die Untergrundorganisation Żegota erinnert, welche Juden mit Verstecken, Geld und falschen Papieren versorgte. Der Park der Überlebenden betont die historische Opferrolle Polens als erstes Angriffsziel deutscher Expansionspolitik und pflegt eine Erinnerungskultur des nationalen Widerstands und Heldentums.

Historiker wie Jan Grabowski und Jan Tomasz Gross konstatieren ein Ausblenden des seinerzeit auch in Polen weit verbreiteten Antisemitismus und der polnischen Mittäterschaft, welches sie dem konservativ-nationalistischen Selbstverständnis des Landes anlasten.
Gross dokumentierte bereits 2001 in seinem Buch Sąsiedzi (Nachbarn), wie die Bevölkerung des kleinen Ortes Jedwabne im Juli 1941 1.600 Menschen ermordet hatte. Zuvor war den Einwohner:innen versichert worden, an Juden begangene Gewalttaten würden straffrei bleiben.

Grabowski, Professor an der Universität Ottawa, trat mit zwei Publikationen dem Opfermythos Polens entgegen: Hunt for the Jews: Betrayal and Murder in German-Occupied Poland (2013) und Night Without End (2018), gemeinsam mit Barbara Engelking – eine umfassende Studie über das Schicksal der Juden verschiedener Bezirke. Grabowski wurde öffentlich angegriffen und von Angehörigen der namentlich genannten Täter sogar verklagt. Bis heute birgt die Erinnerungspolitik Polens ein hohes Konfliktpotenzial um die Deutungshoheit unterschiedlicher Interessengruppen.

Bahnhof Radegast

Das zentrale Holocaust-Denkmal der Stadt befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Bahnstation Radegast. Zwischen 1942 und 1944 wurden von hier aus mehr als 150.000 Juden und Roma in die Vernichtungslager Kulmhof und Auschwitz-Birkenau deportiert.

Mit Spenden aus dem In- und Ausland entstand im Jahr 2005 ein mehrteiliger Gedenkkomplex, an dessen Eingang ein großes Denkmal in Form eines Schornsteins steht. Eine anschließende Halle enthält Gedenktafeln, auf denen die Herkunftsorte der Deportierten verzeichnet sind. Die Halle wiederum mündet in einen 140 Meter langen Tunnel, an dessen Wänden Faksimiles von Transportlisten und Dokumenten angebracht sind.
Die Gedenkstätte als Inszenierung eines Krematoriums und der sog. Todesrampe von Auschwitz – ich persönlich konnte dem nicht viel abgewinnen, zumal die Architektur und die in Frakturschrift auf dem Mauerwerk angebrachten Jahreszahlen den Anschein erwecken, der Komplex datiere in die 1930- bis 1940er-Jahre und sei womöglich authentisch im Sinne von original erhalten.

In einem dem Neubau nachgeordneten, hölzernen Bahnhofsgebäude befindet sich ein bescheiden ausgestattetes Museum mit Stadtmodell; auf den Resten der damaligen Gleisanlage eine Lokomotive der Deutschen Reichsbahn nebst drei Viehwaggons, in denen Menschen seinerzeit transportiert wurden. Letztere fielen unerwartet klein aus, verglichen mit Aufnahmen, die ich aus Büchern und Filmen kannte.
Aufgrund der räumlichen Enge der gesamten Anlage müssen Täter:innen menschliches Leid jedenfalls aus nächster Nähe miterlebt haben. Hier war ein Wegschauen kaum möglich.

The Children of Baluty

Das Ghetto unterhielt gesonderte Gebäude für die Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, u. a. ein Haus für Roma-Kinder im sog. „Zigeunerlager“ sowie ein Kinder-KZ für polnische Heranwachsende christlichen Glaubens. Das sog. „Polen-Jugendverwahrlager“ wurde von der SS bewacht.
Im Stadtteil Bałuty, dem Zentrum des ehemaligen Ghettos, finden sich heute mehr als zwanzig Denkmale und Darstellungen zur Erinnerung an diese Zielgruppen nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Besonders augenfällig sind schwarz-weiß gehaltene Wandbilder, mit denen Josef Waks (1899–1980), ein ehedem internierter russischer Jude, und weitere Künstler bereits in den 1950er- und 60er-Jahren an die Einzelschicksale von Kindern, Jugendlichen und Familien erinnerten. Die anhand von Archivaufnahmen erstellten Gemälde stellen die Traumata, die das Leben im Ghetto unweigerlich mit sich brachte, sinnfällig vor Augen.
Mich persönlich haben diese Bilder tief berührt, und ich werte diese Erfahrung als Indiz, dass reflektiert positionierte, neu zu definierende Formen der Kunst im öffentlichen Raum Wesentliches zur NS-Erinnerungskultur beitragen können. Das 2012 begonnene, digital basierte Erinnerungsprojekt Dzieci Bałut schließt an diese frühen Darstellungen an und erzählt auf Internetportalen wie Show Your City und Your Pocket eine Geschichte der Kinder im Ghetto. Die Webseite ist ein zusätzliches Archiv, das Fotospaziergänge durch verschiedene Orte der Täterschaft in Polen, unter anderem Łódź, öffentlich zugänglich macht.

Historische Fakten – nationale Narrative

Im Rahmen unserer zweitägigen Exkursion konnten wir nicht alle Erinnerungsorte, die für die Geschichte und das Verständnis des Ghettos Litzmannstadt relevant gewesen wären, kennenlernen. Ergänzend erwähnt seien das Museum der Stadt Łódź mit einer Dauerausstellung zur jüdischen Stadtgeschichte und zur Zeit des Ghettos sowie der Jüdische Friedhof Łódź, einer der größten jüdischen Friedhöfe Europas.
Individualreisende können sich auf einem historischen Stadtrundgang mit der App Śladami Getta (Spuren des Ghettos) mit Infotafeln, QR-Codes und Karten durch das ehemalige Ghetto führen lassen.

Mein Besuch in Łódź hinterließ viele Eindrücke und ebenso viele Fragen. Ich hatte gesehen, dass die dortige Erinnerungskultur sehr vielfältig ist, vom klassischen Monument über digitale Archive und Stadtrundgänge bis hin zur Street Art reicht und eine unmittelbare Wirkung im Stadtbild entfaltet. Dies ist auch den räumlichen Umständen deutsch-polnischer Täterschaft in Łódź geschuldet – die ländliche Randlage vieler weiterer KZ-Gedenkstätten wirkt einem solchen Konzept entgegen.
Łódź kann m. E. jedoch auch diesen ein Vorbild sein, was die Einbindung digitaler Inhalte in die Websites städtischer Tourist-Zentralen oder die Unterstützung von Künstler:innen-Initiativen bei der Gestaltung öffentlicher Räume und Wegführungen betrifft.

Im internationalen Ländervergleich verlief die Entstehung einer Gedenkkultur sehr unterschiedlich und ist ein bis heute fortwährender, unabgeschlossener Prozess. Beim Erhalt und Ausbau von Tatorten zu Gedenkstätten muss mit Widerstand von Seiten lokaler oder nationaler Behörden und heutiger Anwohner:innen gerechnet werden (vgl. Bettina Altendorf, Der Umgang mit Gedenkstätten in Deutschland).
Die jeweilige Anmutung und der Vermittlungsansatz werden von mehreren Faktoren bestimmt – insbesondere vom zeitlichen, geografischen und politischen Hintergrund der jeweiligen Akteur:innen.
Unmittelbar nach Kriegsende zwangen die Alliierten deutsche Anwohner:innen zur Besichtigung von Konzentrationslagern sowie zur Bergung und Beerdigung der Toten. Anschließend errichteten Überlebende und ausländische Regierungen eigene Denk- und Mahnmale.

Wie in Dachau wurden viele Lager aber auch als Unterkünfte für Flüchtlinge und Vertriebene oder nach Abriss als Lieferanten für dringend benötigte Baumaterialien verwendet. In einigen Fällen kam es zu einer kontinuierlichen Nutzung eines Lagers als Gefängnis – im ehemaligen Schutzhaftlager des Konzentrationslagers Neuengamme wurde bspw. 1948 eine Strafanstalt eingerichtet.
Nach Kriegsende zog die Mehrheit der Deutschen und Österreicher:innen es vor, die Verbrechen des NS-Regimes zu verdrängen. Eine Veränderung des kulturpolitischen Klimas bewirkten erst der 1961 geführte Eichmann-Prozess und die zwei Jahre später in Frankfurt verhandelte Auschwitz-Anklage.
1965 eröffnete in Dachau die heutige Gedenkstätte mit Museum, Archiv und Bibliothek, 1966 folgte Bergen-Belsen mit einem Dokumentationshaus zur Geschichte des Lagers. Österreich sah sich bis Mitte der 1980er-Jahre in der Rolle des ersten Opfers nationalsozialistischer Expansionspolitik. Hier brachte der Skandal um die Präsidentschaft Kurt Waldheims die entscheidende Wende.
In der DDR war der Antifaschismus Teil der sozialistischen Staatsdoktrin. Die Beteiligung an Gedenkveranstaltungen war von der Partei gewünscht, der Besuch einer Gedenkstätte Teil des Schulunterrichts. Die staatlich kontrollierte Mahn- und Gedenkstättenkultur bildete den Hintergrund jährlich begangener Rituale, welche die Erinnerung an Terror und Opfer des Faschismus zum Sieg des Sozialismus über die Klassengesellschaft stilisierten.
Erst Mitte der 1980er-Jahre wurde die Erinnerungskultur der DDR ebenso wie jene der BRD vielfältiger. Die Themen Holocaust, Kollaboration und Diversität der Opfergruppen werden seitdem differenzierter betrachtet und verhandelt. Mit der deutsch-deutschen Einheit entstand zudem die Notwendigkeit, die Geschichtsnarrative beider deutscher Staaten zusammenzuführen und im Hinblick auf die Erfahrung der SED-Diktatur ggf. zu erweitern.

Zwischen Gedenken und Gedankenlosigkeit

World War Two Today – unter diesem Titel arbeitet der niederländische Fotograf Roger Cremers seit 2008 an einer Bildserie, die europäische Erinnerungskultur aus der Sicht von Besucher:innen dokumentiert. Cremers Aufnahmen zeigen historisch belastete Gebäude und Landschaften, in die sich Spuren des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust dauerhaft eingeschrieben haben: Kriegsschauplätze, Ruinenarchitektur, Soldatenfriedhöfe, Massengräber und Gedenkstätten.
Vor allem jedoch zeigen sie Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität und deren Verhaltensweise am jeweiligen Gedächtnisort.

Cremers’ Kamera hält einzelne Momente offizieller Erinnerungskultur im Rahmen nationaler Gedenktage ebenso fest wie inoffizielle Zusammenkünfte, bei denen das Soldatensterben des Weltkriegs mit militärischem Pathos begangen wird.
Zwei Seiten ein und derselben Medaille? Wohl kaum: Die ursprünglich als Veteranentreffen organisierten Versammlungen waren in Deutschland und Österreich von Anbeginn ein fester Bestandteil rechtsextremer und neonazistischer Identitätspolitik.
In vielen Ländern Europas und auch in Übersee ist zudem in der Mitte bürgerlicher Gesellschaft ein reges Interesse an Kriegs- und Militärgeschichte zu beobachten. Im Rahmen sog. Reenactments stellen Zivilist:innen in originalgetreuen Kostümen und an originalen Schauplätzen reale Kriegsereignisse nach – eine historische Variante der Virtual Reality von Computerspielen.

Zentrale Orte nationalsozialistischer Vernichtungspolitik wie etwa Auschwitz haben sich zu touristischen Anziehungspunkten entwickelt, die von Besucher:innen unterschiedlich wahrgenommen und interpretiert werden: als Gedenkort, als Hintergrund für ein Selfie oder als Grünfläche für den Spaziergang.
Cremers’ Momentaufnahmen kommentieren und bewerten nicht. Sie entstehen aus größtmöglicher Distanz und überlassen es dem Betrachter, der Betrachterin, Schlüsse zu ziehen oder Fragen nach dem Kontext der Aufnahmen zu entwickeln.

Bis einschließlich 18. Januar 2026 zeigt das Wiener Jüdische Museum am Judenplatz unter dem Titel Sag mir, wo die Blumen sind ... eine Ausstellung mit ausgewählten Fotografien Cremers.
Ein Besuch dieser Ausstellung lohnt sich, denn sie zeigt, wie vielfältig sich die Erinnerungskultur zum Thema Nationalsozialismus heute darstellt – und wie unterschiedlich kollektive und individuelle Strategien der Inanspruchnahme historischer Orte ausfallen können.

Credits und Zusatzinfos: 

Weiterführende Literatur

Bettina Altendorf, Der Umgang mit Gedenkstätten in Deutschland, Zukunft braucht Erinnerung, 2005.
Victoria Altendorf, Gerald Kumar, Lukas Lamprecht, Gritt Nievoll, Sebastian Oelschlegel (Hg), Erinnerungskultur und Holocaust Education im digitalen Wandel, Bielefeld 2024
Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung – Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, Frankfurt/Main 1999.


Empfohlene Zitierweise
Gisela Mathiak: Denken in Bildern: Wie Gedenkstätten wirken. Ein Erfahrungsbericht, in: neues museum 25/4, www.doi.org/10.58865/13.14/254/12
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