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Das Museum in Raum und Zeit neu verorten
Revitalisierung der Stadtgeschichte: OpenGLAM.at und die digitale Langzeitarchivierung in Ybbs
Von: Kathrin Kratzer (wissenschaftliche Mitarbeiterin, Zentrum für Museale Sammlungswissenschaften, Universität für Weiterbildung), Sylvia Petrovic-Majer (OpenGLAM.at), Sven Schlarb (Scientist, Data Science & Artifical Intelligence, Austrian Institute of Technology), Steinaweg, Wien

Das (Kern-)Team von OpenGLAM.at hat im Projekt Ybbs 4 Dimensionen gemeinsam mit einem erweiterten künstlerischen Projektteam einen ergebnisoffenen Prozess gestartet, der die Bevölkerung der Stadt von Anfang an miteinbezog und aktiv mitgestalten ließ. Die historische Stadtgeschichte diente als Ausgangspunkt, um individuelle Zugänge zur Vergangenheit zu erschließen und die Menschen auf einer persönlichen Ebene zu berühren. Durch die Erzählungen einzelner Bewohner:innen wurden historische Orte und Gebäude in Ybbs mit lebendigen Erinnerungen angereichert.

Diese vielfältigen Perspektiven verdichteten sich an bestimmten Orten besonders stark. Sie spiegeln eine Zeit wider, in der das städtische Leben noch weitgehend im Zentrum stattfand, bevor sich viele alltägliche Aktivitäten in die Peripherie verlagerten. Dieser Wandel wird heute als praktikabel empfunden, hinterlässt jedoch eine gewisse Wehmut über den Verlust einer lebendigen Innenstadt. Der Verein OpenGLAM.at sammelte historische Zeugnisse unterschiedlichster Ereignisse und interpretierte sie künstlerisch. So entstand eine sensible Reflexion der greifbaren wie auch immateriellen Artefakte im öffentlichen Raum. Besonders wertvoll war die Verortung der Vergangenheit in der Gegenwart durch künstlerische Interventionen, die Geschichte auf neue Weise erfahrbar machten.

Die Ybbser Werkstätten boten den Einwohner:innen die Möglichkeit, sich direkt am Projekt zu beteiligen und eigene Erinnerungen einzubringen. Ergänzend wurden Interviews mit Zeitzeug:innen geführt, um vergangene Alltagsgeschichten zu dokumentieren.
Ein wichtiger Bestandteil des Projekts war damit auch die Integration historischer Daten in die Plattform Baugeschichte.at durch die Bevölkerung – ein Wiki zur digitalen Stadtgeschichte. Ursprünglich für Graz entwickelt, wurde es kontinuierlich erweitert und nun auch für Ybbs adaptiert. Die gesamte Innenstadt konnte flächendeckend von engagierten Personen erfasst werden. Neben Basisinformationen und Fotos wurden Detailaufnahmen ergänzt, um ein umfassendes Bild der Stadtentwicklung zu zeichnen.

Die künstlerische Bearbeitung der gesammelten Materialien fand in verschiedenen Formaten statt. Einer der Höhepunkte war ein multimedialer Stadtrundgang, der Oral History, innovatives Sounddesign und Performance-Kunst miteinander verband. Dabei wurden historische Gebäude durch eine Kombination aus Stadtführungen und digitaler Aufbereitung erlebbar gemacht. Die Performerinnen entwickelten ein Konzept, das Vergangenheit und Gegenwart ineinander überlappen ließ. Ergänzt wurde die Dokumentation durch die Methode Following [1], wobei sogenannte Fleshies eine körperliche Wiederholung einzelner Bewegungssequenzen zeigen und jederzeit – auch in Zukunft – stattfinden können.

Ein zentrales Anliegen des Projekts war auch die Archivierung und nachhaltige Sicherung der gesammelten Daten. Die Langzeitarchivierung wurde von Beginn an mitgedacht, um die Dokumentation des Prozesses, der Ereignisse und des Projekts an sich langfristig zugänglich zu machen. Langzeitarchivierung bedeutet, Daten über Generationen hinweg zu erhalten – also mindestens 50 bis 100 Jahre. Da Datenträger oft bereits nach zehn Jahren veralten, wurde ein nachhaltiges Repository-System benötigt. Die Wahl fiel auf earkweb, ein Open-Source-Archivierungssystem, basierend auf dem OAIS-Referenzmodell.

earkweb wurde speziell für das Projekt Ybbs 4 Dimensionen erweitert, um die kulturelle Entwicklung der Stadt unter Berücksichtigung historischer und gegenwärtiger Dimensionen zu dokumentieren. Die interoperable Speicherung und Bereitstellung der relevanten Daten gewährleisteten die nachhaltige Nutzung. Daten benötigen Metadaten, um lesbar und wiederverwendbar zu sein. Weniger bekannt ist die Dokumentation von Paradaten [2], die die Umstände der Digitalisierung sowie Entscheidungsprozesse festhalten. Sie ermöglichen eine langfristige Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit.

Durch diese Langzeitarchivierung erhielten die Projektergebnisse eine Sichtbarkeit auf europäischer Ebene. Dies wurde durch die Kooperation mit Europeana (www.europeana.eu) ermöglicht, wobei der Aggregator Europeana Local [3] als Vermittler diente. Damit setzt OpenGLAM.at seine demokratische Mission fort, digitale Kulturprojekte niederschwellig zugänglich zu machen und damit dem Prinzip „Leave no one behind“ der universalen Werte der United Nations zu folgen.[4]

Ergänzend ist zu erwähnen, dass das Stadtmuseum Ybbs sich in einer schwierigen Situation befindet: Obwohl es bereits 1903 in der Kunsttopografie Melk erwähnt wurde, hat es im Laufe der Zeit mehrere Standortwechsel durchlaufen und ist heute nur nach Anmeldung zugänglich. Ein regulärer Museumsbetrieb findet nicht statt und die Archivbetreuung liegt in den Händen eines kleinen Kreises von Ehrenamtlichen. Die räumlichen Bedingungen sind mit einem erschwerten Zugang herausfordernd. Die Ausstellung besteht aus wenigen Räumen und die ursprüngliche Gestaltung wurde mehrfach verändert. Trotz dieser Herausforderungen besitzt das Stadtmuseum Ybbs bemerkenswerte Sammlungen mit überregionaler Bedeutung. Einige Objekte haben bereits ihren Weg in große Ausstellungen gefunden, doch den Ybbser:innen selbst bleiben diese Schätze oft verborgen.

Eine digitale Präsentation der Sammlung könnte die Reichweite erheblich vergrößern. Bislang scheiterte dies jedoch am hohen Zeit- und Arbeitsaufwand. Dabei wäre eine Online-Dokumentation nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Stadtbewohner:innen von großem Wert. Das Projekt Ybbs 4 Dimensionen hat gezeigt, dass eine solche Öffnung möglich ist – nun liegt es an den Verantwortlichen, diesen Weg weiterzugehen.

Das Projekt Ybbs 4 Dimensionen hat zahlreiche neue Wege eröffnet. Für Ybbs und OpenGLAM.at hat sich aus der internationalen Zusammenarbeit ein weitreichendes Netzwerk ergeben, das neue Forschungsfragen aufwirft. Diese betreffen nicht nur die Archivierung, sondern auch das Zusammenspiel von Gesellschaft, Technik, Kunst und Kultur.
Die Fortführung des Projekts ist bereits in Planung: Unter dem Titel Ybbs ¾ Dimensionen wird der Fokus auf die räumliche Dimension gelegt. Dabei soll insbesondere das Prinzip der Nachhaltigkeit weiterentwickelt werden. 

Credits und Zusatzinfos: 

Anmerkungen
1 Das Duo Marlies Surtmann und Olivia Jaques mit dem Künstlernamen „Performatorium“ ist an der Schnittstelle Kunst und Wissenschaft gleichermaßen angesiedelt und hat eine Methode zur Dokumentation von Performance entwickelt, welche sie als Following beschreiben. Im Zuge der Beobachtung einer Performance werden Bewegungen „eingekapselt“, also isoliert und in den Fleshies beschrieben, indem Interessierte angeleitet werden, gewisse Bewegungen in einem entfremdeten Raum durchzuführen. 
2 Marc Grellert, Markus Wacker, Jonas Bruschke, Daniel Beck, Wolfgang Stille: „IDOVIR – A New Infrastructure for Documenting  Paradata and Metadata of Virtual Reconstructions“, in: Marinos Ioannides, Drew Baker, Athos Agapiou, Petros Siegkas (Hg.), 3D Research Challenges in Cultural Heritage – Paradata, Metadata and Data in Digitisation, Springer 2025, S. 103 ff.; https://doi.org/10.1007/978-3-031-78590-0 (13.4.2025).
3 Die tatsächlich unkompliziertere Kontaktaufnahme mit Gerda Koch von Europeana Local zu Beginn des Projekts war entscheidungsfindend, www.europeana.eu/de/collections/organisation/1536-europeana-local-austria (13.4.2025).
4 UN-Universal Values, Principle 2: LEAVE NO ONE BEHIND: https://unsdg.un.org/2030-agenda/universal-values/leave-no-one-behind.


Alle Fotos:
Performance in Ybbs am 21. September 2024, Foto: OpenGLAM.at / CC-BY-SA 4.0


Empfohlene Zitierweise
Kathrin Kratzer, Sylvia Petrovic-Majer,  Sven Schlarb: Das Museum in Raum und Zeit neu verorten. Revitalisierung der Stadtgeschichte: OpenGLAM.at und die digitale Langzeitarchivierung in Ybbs, in: neues museum 25/3.
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