Die Ofenkacheln aus dem 17. Jahrhundert zeigen Spuren von Kinderarbeit, die heute weltweit wieder im Steigen begriffen ist
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GERECHT? Geschichten über soziale Ungleichheiten

34 Fragen, 34 Objekte, 34 Geschichten – in der Ausstellung GERECHT? Geschichten über soziale Ungleichheiten im Tiroler Volkskunstmuseum zum Euregio-Museumsjahr werden aktuelle, teils dringliche Fragen mit historischen Objekten in Verbindung gebracht. Dadurch erhalten sie eine Brisanz, die zu Diskussionen anregt.
 
In der Geschichte der Menschheit werden bis heute zahlreiche reale, objektive oder fiktive Kategorisierungen vorgenommen, auf denen gesellschaftliche Ordnungssysteme aufbauen – in Gesetzen verankert, religiös und politisch untermauert, in Ritualen und Gewohnheiten fortgeschrieben, in „Werte-Diskursen“ debattiert: Geburt, Geschlecht, Zugehörigkeit, Vermögen, Alter, Herkunft, die folgenschwere Fiktion von Rassen, Religion, Arbeitsfähigkeit etc.
 
Soziale Gerechtigkeit scheint jedoch ein wesentlicher Faktor für sozialen Frieden zu sein: Menschen fühlen sich nachweislich dort am sichersten, wo Vertrauen in Rechtssysteme und in die gerechte Verteilung von Sozialausgaben besteht, wo staatlich gewährte Sicherheit, gesellschaftlicher Zusammenhalt und ein Gefühl der Gleichheit herrschen. Erreicht wird dies weniger durch verstärkte polizeiliche und strafrechtliche Maßnahmen, sondern vor allem durch Transparenz, Integrität und eine faire Verteilung.[1] Nach den Traumata zweier Weltkriege formulierten die Vereinten Nationen 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die Vision einer sozialen Gerechtigkeit für alle Menschen – gleiche Rechte, gleiche Möglichkeiten und eine faire Ressourcenverteilung. Diese universellen Werte bilden bis heute die Grundlage für internationale Bemühungen um eine gerechtere Welt. Aufbauend auf diesem Fundament wurde 2016 die Agenda 2030 verabschiedet: ein Aktionsplan mit 17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung, den Schutz der Erde, die Förderung von Frieden und Wohlstand und die Reduktion von Ungleichheiten. Die Herausforderungen, diese Visionen umzusetzen, scheinen heute größer denn je.
 
Anhand von 34 Objekten wird in der Ausstellung GERECHT? Geschichten über soziale Ungleichheiten sichtbar, welche Anstrengungen es gab, eine „gleichere“ Gesellschaft zu schaffen. Diese Auseinandersetzungen waren und sind immer mit Macht sowie sozialer und ethischer Verantwortung verbunden – und erfordern vor allem die Fähigkeit, sich der Maximen des eigenen Handelns bewusst zu sein und diese artikulieren zu können.
 
Eine Kooperation zwischen tiMus (Tiroler Museumsverband) und dem Tiroler Volkskunstmuseum
 
Für die Ausstellung wurden Museen und Institutionen in Tirol, Südtirol und im Trentino eingeladen, sich mit Exponaten zu Aspekten sozialer (Un-)Gleichheiten, zu gesellschaftlichen Herausforderungen, zu Spannungen und Konflikten, zu Krisenbewältigung oder nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen zu beteiligen.[2] Von 34 Institutionen wurden überraschende, vielfältige und insbesondere auch regionale Bezüge aufweisende Exponate vorgeschlagen. Sie setzen pointierte Blitzlichter auf gesellschaftliche Veränderungen in Geschichte und Gegenwart und eröffnen zugleich einen Einblick in die spannende, heterogene Museumslandschaft der Region. Die Ausstellung ist gleichsam ein sozialhistorisches Kaleidoskop von Exponaten und Geschichten aus einem Zeitraum von fast 2.000 Jahren: szenografisch gestaltet durch in Schieflage, aus der Balance oder ins Wanken geratene Balken, steht jede Geschichte, jedes Exponat für ein Thema – übertitelt mit einer aktuellen Frage, die an heutige Lebensrealitäten anknüpft. Diese 34 Fragen eröffnen Denkräume, in denen gegenwartsorientiert über Aus- und Wechselwirkungen, über Konsequenzen und Veränderungen, über Selbstwahrnehmung und Eigenverantwortung in Bezug auf das Thema Gerechtigkeit reflektiert werden kann. Besucher:innen sind eingeladen, ihre Gedanken und Botschaften zu hinterlassen und ihre eigene kreative Rolle in der Gesellschaft, Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume auszuloten und mit anderen zu teilen.
 
„Bist du Teil der Gesellschaft?“ – „Darfst du wählen?“ – „Darfst du mitbestimmen?“
 
Ein sogenannter Bürgerpokal wurde im 17. Jahrhundert mit Wein gefüllt, neuen Bürgern als Zeichen der Zugehörigkeit zum Trunk gereicht (Museum im Ballhaus, Imst). Eine Wahlurne aus den 1920er-Jahren erinnert an die ersten Gemeinderatswahlen für Männer und Frauen 1919 (Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck). Das Plakat „Passives Wahlrecht für ausländische Arbeiter/innen“ von 1989 thematisiert die fehlende Mitbestimmung vieler hier lebender und arbeitender Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft (Dokumentationsarchiv Migration Tirol – DAM / ZeMIT). Nuancenreich und sehr pointiert motivieren die Fragen zu diesen Objekten, über den Wandel der politischen Mitbestimmung, der gesellschaftlichen Beteiligung, der eigenen Rechte und Pflichten, vor allem aber über aktuelle Verhältnisse zu reflektieren.
 
Anhand der Berufsbekleidung weiblicher Reinigungskräfte (Lechmuseum, Lech am Arlberg), einer Notburga-Statue (Notburgamuseum, Eben am Achensee), Fotografien von Waldarbeiterinnen aus dem Trentiner Fleimstal (AMCF, Palazzo della Magnifica Comunità di Fiemme) oder Ofenkacheln aus dem 17. Jahrhundert mit Spuren von Kinderarbeit (Tiroler Volkskunstmuseum) werden Fragen zur Arbeit in Bezug auf Wertschätzung, das Recht auf Feierabend, gerechten Lohn oder die Ausbeutung von Minderjährigen gestellt.

Die Frage „Wer bestimmt über deinen Körper?“ führt angesichts einer handgeschnitzten Giftspritze eines Knechts um 1900 (Achenseer Museums- und Erlebniswelt, Maurach), der damit an seiner schwangeren Freundin einen lebensgefährlichen Abbruch durchführte, zur nach wie vor aktuellen Diskussion um die Selbstbestimmung über den weiblichen Körper sowie zu ethischen Fragen.

Körpernorm, Körperbild, „erlaubte“ und „nicht erlaubte“ Kleidung, Erziehungsvorstellungen und Familienbilder sind in der Ausstellung ebenso thematisiert wie die Rolle des Staates in Bezug auf die Sicherheit der Bevölkerung, Legislative und Exekutive. Einige Museen steuerten Objekte zu Migration und (fehlender) Inklusion bei – Themen, die in der seit Jahrhunderten maßgeblich von Wanderungsbewegungen, Sprachenvielfalt, nationalen Gebietsansprüchen, aber auch Arbeitsmigration geprägten Region Tirol-Südtirol-Trentino eine zeitlose Aktualität zu haben scheinen. Bei genauerer Betrachtung werden jedoch die Brüche und auch die Kontinuitäten in der Argumentation klarer und diskutierbar. „Bist du neidisch auf Geflüchtete?“ – Eine Toilette aus einer Südtiroler Siedlung in Reutte um 1940 (Museum im Grünen Haus, Reutte) ist Thema in zeitgenössischen Gemeinderatsprotokollen, in denen der Unmut der Bevölkerung über die moderne Wohnausstattung von optierten Südtiroler Familien zum Ausdruck kommt.
 
Heute schon diskutiert? Museen sind relevante Orte für aktuelle Fragen
 
Lebhafte – teils hitzige –, aber sehr willkommene Diskussionen entstehen in den Ausstellungsräumen. Letzthin führte die Ankündigung eines Workshopangebotes für Kinder Wir protestieren. Demoschilder gestalten zu einer Kontroverse in der Tiroler Presselandschaft mit vielen Leser:innenbriefen, die bei allen Pros und Contras sichtbar machen, wie wichtig die Diskussion ist und wie gut Museen dafür Räume und Rahmenbedingungen schaffen.
 
„Altbekanntes“ neu zu lesen, aktuelle Fragen an die Vergangenheit zu stellen, fördert das Verständnis für die Gegenwart und eröffnet damit Möglichkeiten, die Zukunft bewusst (anders) zu gestalten. Museen sind ideale Orte, um solche Brücken zu schlagen. Sie sind längst nicht mehr nur Hüterinnen des kulturellen Erbes, sondern setzen sich mit sozialen und politischen Verhältnissen auseinander, hinterfragen ihre Sammlungsbestände kritisch und bieten zeitgemäße, oft widersprüchliche Perspektiven an. Sie entwickeln Strategien der Inklusion und aktiven Teilhabe und schaffen neue Dialogräume, um den Austausch in der Gesellschaft mit generationen- und communityübergreifenden Gemeinschaftserlebnissen zu fördern.[3]
 
Im Bewusstsein, dass maßgebliche und oft weitreichende gesellschaftspolitische Entscheidungen regional getroffen werden, sind es gerade Museen „am Land“, die zur Auseinandersetzung mit aktuellen Themen im Spiegel der eigenen Geschichte einladen.


Credits und Zusatzinfos: 
Anmerkungen

[1] Ungleiche Einkommens- und Chancenverteilung in einer Gesellschaft haben Einfluss auf eine Vielzahl der drängendsten sozialen Probleme, siehe Richard Wilkinson, Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 20124, S. 265 ff. Vgl. außerdem Arno Pilgram: „Gefühlte Sicherheit – und was Kriminalität damit zu tun hat“, in: Peter Melichar, Andreas Rudigier (Hg.): Auf eigene Gefahr. Vom riskanten Wunsch nach Sicherheit, Wien 2021 (= vorarlberg museum Schriften 58), S. 232–252, S. 245 f.
[2] Die Ausstellung ist Teil des Euregio-Museumsjahrs 2025 „weiter sehen“ der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino, das ausgehend vom Gedenken an Michael Gaismair und den Bauernkriegen vor 500 Jahren Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Umgangs mit Krisen und gesellschaftlichen Umbrüchen sowie des Widerstands zum Thema macht. Kuratorinnen: Lisa Noggler, Jutta Profanter, beide Tiroler Landesmuseen, Innsbruck, Christine Weirather, Stadtmuseum Hall in Tirol. Sandra Marsoun-Kaindl, Noaflhaus, Telfs und Katharina Walter, Tiroler Landesmuseen, Innsbruck.
[3] Vgl. Lisa Noggler, „Orte des Dialogs. Tiroler Museen und ihre gesellschaftspolitische Relevanz am Land“, in: Atlas Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft Tirol, Innsbruck 2024, S. 46–49; sowie Museen sind relevant. Vision einer lebendigen Museumslandschaft Tirol, tiMus –Verband Tiroler Museen, www.timus.at/museen-sind-relevant/ (15.03.2025).

Fotos
Maria Kirchner (1–3), Tiroler Landesmuseen (4), Bianca Moser (5)


Empfohlene Zitierweise
Lisa Noggler, Jutta Profanter: GERECHT? Geschichten über soziale Ungleichheiten, in: neues museum 25/4, www.doi.org/10.58865/13.14/254/4
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